Der Tod und das kleine Mädchen (2)

Etwas ungewöhnlich ist das schon, wie der Tod und das kleine Mädchen miteinander spielen. Mitte Februar hatte ich im Altenheim Dienst, fasste mir ein Herz und holte ein paar Bewohnerinnen zusammen, bis wir einen Kreis mit 9 oder 10 hatten. Und dann las ich das Märchen vor; obwohl der Tod drin vorkommt. Ein Besucher, ein Ex-Pastor, hörte zu und meinte später: »Ein sehr gutes, ungewöhnliches Märchen.«

»Hörst du die Glocken läuten?«, fragte der Tod. »Siehst du, mit den Menschenseelen ist das ganz ähnlich wie mit den Glocken. Jede Menschenseele ist eine Glocke und du hörst sie läuten, wenn du ordentlich aufpasst, in frohen und in traurigen Stunden. Bei manchen läutet sie nur noch ganz schwach und das ist dann wirklich sehr schlimm. Wenn ich nun zu einem Menschen komme, dann läutet seine Glockenseele Feierabend – und ich hänge die Glocke dann in den Himmel. Dort läutet sie weiter.«

»Läuten sie denn da alle durcheinander?«, fragte das kleine Mädchen. »Das muss gar nicht schön klingen, denn jede läutet doch sicher ganz anders. Es ist gewiss nicht angenehm für den lieben Gott, sich das immer anhören zu müssen.« – »Das ist schon wahr«, sagte der Tod, »aber siehst du, die Glockenseelen kommen so oft auf die Erde zurück und werden so lange umgegossen, bis sie alle ihr eigenes richtiges Geläute haben und alle zusammenklingen. So lange aber muss ich die Menschen von der Erde zum Himmel tragen.«

»Das tut mir sehr leid für dich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist gewiss eine sehr mühsame Arbeit. Aber pass nur auf, es wird schon mal besser werden und dann hast du gar nichts mehr zu tun und wir beide spielen immer so nett zusammen wie heute.« Der Tod nickte und seine Augen sahen in eine sehr, sehr weite Ferne.

»Deine Wohnung ist jetzt fertig«, sagte das kleine Mädchen, »ist sie nicht sehr hübsch geworden?« – »Sie ist sehr hübsch«, sagte der Tod, »ich danke dir auch. Abe es ist spät und du musst jetzt nach Hause gehen. Es war schön, mit dir zu spielen.« Und der Tod reichte dem kleinen Mädchen die Hand. »Guten Abend«, sagte das kleine Mädchen und knickste, »kommst du nicht auch einmal mich besuchen? Ich bin so viel allein.« – »Ja«, sagte der Tod freundlich, »ich werde dich sehr bald besuchen, weil du so allein bist.«

Bald darauf wurde das kleine Mädchen sehr krank und die Leute meinten alle, dass es wohl sterben müsse. Die Leute waren traurig, denn es erschien ihnen immer traurig, wenn einer starb – und besonders wenn es ein Kind war, das das Leben noch vor sich hatte, wie sie sagten. Aber es war ja ein sonderbares Kind, das die Großen nicht verstanden und mit dem die Kleinen nicht spielen mochten. Am Ende war es so auch besser.

Als die Glocken Feierabend läuteten, da trat der Tod zu dem kleinen Mädchen ins Zimmer. »Das ist nett von dir, dass du mich besuchen kommst«, sagte das kleine Mädchen. »Es ist Feierabend«, sagte der Tod und setzte sich zu dem kleinen Mädchen aufs Bett. »Ach ja«, sagte das kleine Mädchen, »davon hast du mir damals so schön erzählt, als wir zusammen Himmel und Erde bauten. Dann kommst du gewiss, um meine Glockenseele zu holen. Hoffentlich klingt sie aber auch hübsch, so dass sich der liebe Gott nicht ärgert.«

»Sie sehnen sich im Himmel nach einer reinen Glocke«, sagte der Tod, »darum haben sie mich gebeten, zu dir zu kommen.« – »Muss ich dann sterben?«, fragte das kleine Mädchen. »Das brauchst du gar nicht so zu nennen«, sagte der Tod. »Siehst du, es ist ganz einfach: An deiner Tür stehen zwei Engel und die führen dich dann zum lieben Gott in den Himmel.« – »Ich kann aber die Engel nicht sehen«, sagte das kleine Mädchen. »Ich werde ich mal auf den Arm nehmen«, sagte der Tod, »dann wirst du die Engel gleich sehen.«

Da nahm der Tod das kleine Mädchen auf die Arme – und als er es auf die Arme genommen hatte, da sah es zwei strahlende Engel in weißen Kleidern mit schimmernden Flügeln und die Engel führten es zum lieben Gott in den Himmel. Die Glockenseele des kleinen Mädchens aber läutete und es war lange her, dass eine so reine Glocke oben ihren Feierabend geläutet hatte.

Im Himmel war es sehr schön und da war das kleine Mädchen kein sonderbares Kind mehr, denn die großen Engel verstanden es und die kleinen Engel spielten mit ihm. Auch der liebe Gott war zufrieden und freute sich, dass er eine so reine Glocke bekommen hatte. Das kleine Mädchen fand es nur sehr traurig, dass der Tod unten auf der Erde bleiben musste. Es sah ihn auf dem Friedhof stehen, wenn es mal herunterguckte und dann nickte es ihm zu.

»Kannst du hören, wenn ich von oben ‚runterrufe?«, fragte das kleine Mädchen. »Ja«, sagte der Tod, »du brauchst auch nicht so laut zu rufen, denn für mich sind Himmel und Erde so nahe beieinander, wie wir sie einmal zusammen aus Kieselsteinen gebaut haben.« – »Das freut mich«, sagte das kleine Mädchen, »es ist bloß sehr schade, dass ich nicht mehr mit dir spielen kann. Jetzt spielt niemand mehr mit dir. Sie bloß nicht zu traurig darüber. Hörst du?«

»Es war schön, dass du mit mir gespielt hast«, sagte der Tod, »und wenn ich einmal traurig werde, dann höre ich oben deine Glockenseele läuten und freue mich darüber, dass einmal ein Kind mit mir gespielt hat.« – »Ja, tue das«, sagte das kleine Mädchen, »und ich will dir auch etwas Wunderhübsches sagen, was mir die großen Engel erzählt haben. Die großen Engel sagen, dass einmal eine Zeit kommen wird, wo alle Glockenseelen zusammenklingen und alle Menschen mit dem Tod wie die Kinder spielen werden.«

 

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