TestpilotInnen (94): Er, Sohn des Armenios
Weiter mit dem Erlebnis des ER. Nun wird gelost, jeder erwählt sich ein neues Schicksal auf der Erde. Zum ersten Mal wird uns die Reinkarnation nahegebracht, die den Griechen durch die Inder bekannt gewesen sein mag.
Denn es bot sich uns auch folgender schreckliche Anblick: Als wir alles sonst erlitten hatten und nahe am Ausgang hinaufsteigen wollten, sahen wir plötzlich jenen (Ardiaios) mit anderen, von denen die meisten auch Tyrannen waren, nur einige waren Privatleute mit schweren Verbrechen. Sie glaubten zwar, jetzt hinauszukommen, aber der Ausgang nahm sie nicht auf, sondern brüllte, sooft einer von diesen unheilbaren Schurken oder einer, der noch nicht genug gebüßt hatte, versuchte, hinauszugehen. Und gleich waren auch, sagte er, wilde Männer zur Stelle, ganz feurig anzusehen, die auf das Gebrüll achteten und sie ergriffen und wegführten; dem Ardiaios aber und anderen banden sie Hände, Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder, gerbten ihnen das Fell, zogen sie vom Weg fort und jagten sie in die Dornen. Den jeweils Vorbeigehenden bedeuteten sie, weshalb sie abgeführt und dass sie in den Tartaros geworfen würden. Und so sei denn, sagte er, unter dem vielen, was sie zu fürchten hätten, diese Furcht die schlimmste gewesen für jeden, dass er, wenn er hinaufsteigen wolle, angebrüllt werde, und mit größter Zufriedenheit seien sie hinaufgestiegen, wenn es still blieb. So also seien die Bußen und Strafen, und ihnen entsprächen andererseits die Belohnungen.
[…] Als sie nun ankamen, hätten sie sogleich zur Lachesis gehen müssen. Ein Prophet aber habe sie zuerst der Ordnung nach aufgestellt, dann aus der Lachesis Schoß Lose genommen und Lebensmuster; dann sei er auf eine hohe Bühne gestiegen und habe gesagt:
»Dies ist der Tochter der Notwendigkeit, der jungfräulichen Lachesis, Rede. Eintagsseelen! Ein weiterer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, der er dann notwendig verbunden bleibt. Die Tugend ist herrenlos. Jeder wird, je nachdem er sie mehr oder weniger achtet oder missachtet, auch mehr oder weniger von ihr haben. Die Schuld liegt beim Wählenden; Gott ist schuldlos.«
Nach diesen Worten habe er die Lose unter alle geworfen; jeder habe das ihm zufallende aufgehoben, nur er nicht, ihn habe er nicht gelassen. Wer es nun aufhob, wusste, die wievielte Stelle er erlost hatte. Gleich danach habe er die Lebensmuster vor sie auf die Erde gelegt, viel mehr als anwesend waren. Es seien vielerlei gewesen, die Lebensformen aller Tiere nämlich und alle menschlichen. Darunter seien Gewaltherrschaften gewesen, einige anhaltend, andere scheiterten mitten drin und endeten in Armut, Verbannung und Not. Auch die Lebensform von Männern, die teils wegen ihres Aussehens angesehen waren, ihrer Schönheit wegen oder sonst wegen körperlicher Stärke und Kampfbereitschaft, teils ihrer Abkunft und der Leistungen ihrer Vorfahren wegen; auch von Männern, die entsprechend unberühmt waren, ebenso auch von Frauen.
[…] Damals habe nun, wie der Bote von dort berichtete, der Prophet auch folgendes gesagt: „Auch wer als letzter herantritt, findet, wenn er mit Verstand wählt und beständig lebt, ein liebenswertes Leben vor, kein schlechtes. Wer die Wahl beginnt, sei nicht sorglos, wer sie beschließt, nicht mutlos.“ Nach diesen Worten habe der erste gelost: Aus Unverstand und Gier habe er es nicht hinreichend durchdacht, sei geradewegs auf die größte Gewaltherrschaft losgegangen und habe sie gewählt. Er merkte nicht, dass neben anderem Leid das Schicksal damit verbunden war, seine eigenen Kinder zu verzehren.
Sobald er es nun in Ruhe betrachtete, habe er vor Trauer auf sich eingeschlagen und seine Wahl beklagt, ohne sich an die Worte des Propheten zu halten. Denn er habe die Schuld für das Unheil nicht bei sich, sondern beim Schicksal, beim Daimon und bei allem sonst mehr als bei sich gesucht. Er gehörte aber zu denen, die aus dem Himmel kamen und hatte im vorigen Leben in einem geordneten Staat gelebt. Aber tugendhaft war er ohne Philosophie gewesen, nur aus Gewohnheit. So habe er auch gesagt, ertappe man von denen, die aus dem Himmel kämen, nicht weniger bei solchen Fehlentscheidungen, weil sie im Leid ungeübt seien.
Die meisten aber von denen aus der Erde träfen, weil sie selbst gelitten und andere hätten leiden sehen, ihre Wahl nicht im Sturm. Deshalb, aber auch durch das Losglück, gebe es für die meisten Seelen einen Wechsel im Guten und im Schlechten. Wenn einer allerdings, sooft er in das Leben hier eintritt, richtig philosophiert und ihm das Wahllos nicht zum Schluss zufällt, scheint er nach der dortigen Offenbarung nicht nur hier glücklich zu leben, sondern auch keinen unterirdischen und steinigen Weg von hier nach dort und wieder hierher zurücklegen, sondern einen ebenen über den Himmel. Denn dies Schauspiel sei sehens wert gewesen, wie die einzelnen Seelen ihre Lebensform wählten; es habe nämlich jämmerlich, lächerlich und sonderbar ausgesehen. Meistens habe man nach der Gewohnheit des früheren Lebens gewählt.
Folgt Teil 3 und Ende