Father O’Shea und das Unsichtbare
Der 26. Mai war noch frei, und da stecken wir jetzt Father O’Shea hinein, an den Rachel Naomi Remen erinnerte. Das war in ihrem Buch Aus Liebe zum Leben (Die Segnungen meines Großvaters). Ich wollte im Pflegeheim etwas daraus vorlesen, fand etwas Kurzes, und man kann einfach anfangen zu lesen, es wird einen nicht enttäuschen, so sind kluge Autorinnen!
Und ich fand hinterher, das müsste ich verwenden, denn es erinnerte nur zu sehr an meinen Beitrag Kipling und das Unsichtbare von vor zwei Wochen. (Man sollte ihn vorher rasch überfliegen.) Kurz den Inhalt von Kipling: Es geht um die Hypothese, dass Sätze und Stellen, die man aus einem Text gestrichen hat, durchaus noch da sind, allerdings unsichtbar. Die Leser spüren das, meinte Kipling, und Hemingway nannte das seine Eisberg-Theorie. Es geht aber auch anders: Dass man gar nichts sagt oder schreibt … und doch etwas übermittelt!
Father O’Shea erzählte Rachel von seinem ersten Einsatz als Krankenhausgeistlicher. Er wurde zu einer Frau gerufen, die augenscheinlich im Sterben lag. Sie stöhnte und wälzte sich herum, er hielt ihre Hand und wollte etwas sagen. Doch nichts fiel ihm ein, das Leid der Frau war zu groß, und so saß er nur ängstlich da, ein tiefes Mitgefühl im Herzen. Irgendwann empfahl er sich und war enttäuscht. Vielleicht würde er nie ein guter Geistlicher sein. Zwar meint man, bei einem Schwerkranken nur zu sitzen genüge; doch Father O’Shea hätte der Frau gern verbal biblischen Trost gespendet.
Einige Wochen später erhielt er von der Frau, die gesundet war, einen Brief, in dem sie sich bedankte für alles, was er für sie getan hätte: für seine Worte, die ihr ihr Herz aufgeschlossen hätten. Sie könne ihm nicht genug dafür danken. Der Priester war perplex und sagte launig zu Rachel, er wisse schon, manchmal dürfe er Gutes tun, doch ein anderes Mal schiebe Gott ihn beiseite und sage sozusagen: »Lass mal, Gabriel, das mach ich selber!«
Χ Ω
Eine andere Episode aus Remens Segnungen-Buch (Benutzt werden) soll das Obige ergänzen. Sie schreibt, nach Sitzungen mit einem schwer kranken Patienten habe sie immer eine Liste erstellt, in der sie eine zentrale Rolle gespielt habe mit einer »tiefgründigen Bemerkung« oder einer »eindrucksvollen Interpretation«, wie sie in schöner Selbstironie formulierte. Die Freude war von kurzer Dauer.
Aber wenn ich die Menschen selbst bat, über die Erfahrung der Heilung zu sprechen, dann erwähnten sie nur selten mehr als die Hälfte der Punkte auf meiner Liste. Ansonsten teilten sie mir Dinge mit, die mich ziemlich überraschten, sie sprachen von beiläufigen Bemerkungen oder einem Gesichtsausdruck, einer Geste, die sie auf eine Weise interpretiert hatten, welche sie zu weitreichenden und befreienden Einsichten geführt hatte. (…) Ich nickte dazu wissend, ohne mich oft überhaupt an die Begebenheit erinnern zu können.
Ganz offensichtlich wurde ich in solchen Fällen dazu benutzt, diesen Menschen eine Botschaft der Heilung mitzuteilen, die ihren Ursprung nicht in mir selbst hatte. So etwas geschieht so oft, dass ich mich inzwischen daran gewöhnt habe. Das kann etwas bitter sein für das Ego, doch nur am Anfang.
