Morgenstern über Gott

Morgenstern hatte lange Zeit Nietzsche verehrt, wandte sich aber von ihm ab, und nach einer Krise überfiel den Dichter im Herbst 1906 ein »ungeheurer Gedanke«, der seine eigenen Gedanken in eine neue Richtung trieb. Wie sich das auswirkte, sehen wir im heutigen Beitrag. Morgenstern spricht über Gott. (Spät erst bekam der manipogo-Untertitel Gott und die Welt Konturen.)

Wenn wir bedenken, wieviel hunderttausend Jahre wir wohl alt sein mögen, werden wir geduldiger gegen das Tempo unserer heutigen Entwicklungen werden. Die von uns heute so ungestüm begehrte edlere Zukunft unserer Geschlechter wird sich vielleicht schon noch einmal verwirklichen, aber statt in Jahrhunderten erst in Jahrtausenden. Das ist freilich kein Trost für die Lebenden, aber der Lebende hat einen anderen Trost: dass ihm für seine Person schon heute die Möglichkeit gegeben ist, sich selbst so edel zu verwirklichen, wie er nur kann.

Die Menschen sind heute so weit gesunken, dass sie sich »genieren«, vom Wesentlichen ihres und allen Lebens zu reden. Gott, Christus, Unendlichkeit sind in gewissen Kreisen so verpönt wie in andern Hemd, Hose, Strümpfe; es gehört nicht zum guten Ton, nicht zum savoir vivre … Nur der »weiß« heute zu »leben«, der in der Tat nicht mehr weiß, was leben heißt.

Oft sind die Schauspieler deshalb so unerträglich, weil sie das Leben und die Bühne verwechseln: im Leben meinen sie auf dem Theater, und auf dem Theater meinen sie im Leben zu sein.

Warum sollte dies mein Leben ein Anfang oder Ende sein, da doch nichts ein Anfang oder Ende ist. Warum nicht einfach eine Fortsetzung, der unzähliges Wesensgleiches vorangegangen ist und unzähliges Wesensgleiches folgen wird.

Religion ist Selbsterkenntnis des menschlichen als auch damit göttlichen Geistes. Religion ist die Erkenntnis, dass alles Denken göttliches Denken ist, wie alle Natur göttliche Natur, dass jede Handlung eine Handlung Gottes, jeder Gedanke ein Gedanke Gottes ist, dass Gott nur soweit Gott ist, als er Welt ist, dass die Welt nichts anderes ist als Gott selbst – doch in demselben Augenblick, da ein Mensch sich seines Gott-Seins bewusst wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewusst wird.

Wohin sollte die Natur in der Stufenfolge der Tiere im Menschen streben, wenn nicht dahin, dass Gott in ihm sich selbst erkenne?

»Sein« (esse) ist nur eine Denkform Gottes. Wenn Gott sagt, ich bin, so sagt er dies beides nur als Mensch. Als Gott sagt er nichts, »ist« er nicht einmal etwas. Gott ist nicht Gott.  Als Mensch »ist« Gott.

Was es gilt, ist die Austreibung Gottes aus dem Jenseits in das Diesseits. Gott ist nicht irgendwo, er ist auch nicht hier und da, sondern er ist dies und das, und drittes und legionstes.

Ich sage, er ist (…) Liebe selbst, wie er auch daneben das Elend, die Krankheit, der Schmutz ist, er braucht nicht vor sich zu erröten wie ein feiner Genüssling, er ist kein Dieb an fremdem Gut, er erschleicht seine höchsten Zustände nicht, er ist in schrecklicher Fülle und Wahrheit alles, von oben bis unten, er ist das ganze Universum »an eigenen Leibe«, noch einmal. Er darf alles sein, weil er alles ist.

 

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