Kairos Totenstadt

Vittoria Alliata (1950 geboren) hat in ihrem Buch Harem über die Millionenstadt der Toten in Kairo geschrieben, und solche Häuseransammlungen gibt es außerhalb vieler Millionenstädte; wenn wir bedenken, wieviele uns vorangegangen sind! Zitieren wir aus Vittoria Alliatas Buch.

Sie schildert:

Die einzige echte und lebendige Stadt in Kairo ist die andere, die irrtümlicherweise als »Totenstadt« bezeichnet wird, nur weil sie offiziell die Funktion eines Friedhofs übernimmt. Diese hunderttausend kleinen Totenvillen mit ihren ordentlichen Plaketten in verschnörkeltem Kufi, ihren Kuppeln, ihren kleinen Gittertoren und Minaretten, den Innenhöfen aus weißem Sand, wi vielleicht sogar ein Kapernstrauch wächst, den arabeskenverzierten Gittern, den Wandschirmen aus durchbrochenem Holz bilden eine große Stadt mit einer Million Einwohnern.

Offenbar meint sie die Toten. Sind sie Einwohner, kann man das so sagen? Jedenfalls schreibt Frau Alliata (1950 geboren), dass die Friedhöfe eine »Domäne der Frauen» sind. Wenn’s um Arbeit geht, sind Männer plötzlich unsichtbar. Sie beten.

Wenn die Ehemänner am Freitag in der Moschee beten, gehen sie hinaus, um die Gräber zu gießen, die Toten um Gefälligkeiten zu bitten und vielleicht auch einem blinden Koran-Rezitator (blind, damit er sie nicht sieht) zuzuhören. … Man kampiert dort am Donnerstagabend, denn »Gott steigt in der Nacht herab, um dem Betenden zu verzeihen«, man picknickt in gefährlicher Promiskuität und im Festtagskleid, man pilgert von den Gräbern, die Heilung bringen, zu den Toten, die erhören, man schlendert zwischen den Krypten der großen Prophetinnen, die seit jeher von den Frauen bevorzugt werden, man singt, man gerät in Erregung, man tanzt den dhikr im mystischen Gedenken, und – warum nicht – man zettelt Intrigen, Liebschaften und Ehen an.

Vittoria Alliata verbrachte 5 Tage in der Totenstadt. Wie war das möglich? Sie musste ja irgendwo schlafen und etwas essen und trinken! Das erklärt die Autorin uns:

Statt der Toten fand ich die Lebenden: Sie nahmen mich auf, luden mich ein und führten mich durch die verrufensten Labyrinthe. Sie ernährten mich mit ihrem Brot und tränkten mich mit dem Wasser, das die Frauen drei Kilometer weit herholen. 

Denn, wie sie vorher erklärte:

Ein paar hunderttausend Familien haben dort ihren Wohnsitz genommen, haben Schulen, Brunnen, Transportmittel und sogar ein »Postamt« geschaffen. Es sind Drogenschmuggler, Straßenräuber, Prostituierte, Fellachen, die ihre Misere auf dem Land satt haben, Kriegerwitwen, Familien, die aus den besetzten Ländern geflohen sind, und Seiler, die ihre Seile zwischen zwei Gräbern drehen. Auf den Grabplatten röstet man den Kebab, unter den Kuppeln werkeln die Bäcker, auf den kleinen Plätzen richtet man Märkte ein … kesse kleine Mädchen vermieten dem Wanderer eine küle Unterkunft zum Ausruhen und, wenn er will, auch eine Partnerin; … Es gibt sogar eine Eisenbahn, und die wirkt munterer als die Metro der Lebendigen, auch wenn sie sich über einen unförmigen Hügel quält, der nichts anderes ist als ein öffentlicher Schuttabladeplatz.  

Heute noch leben in der südlichen und nördlichen Totenstadt Kairos 300.000 Menschen. Wikipedia hat einen Artikel darüber. Als die Besiedlung durch arme Zugezogene begann, lag der Friedhof noch außerhalb der Stadtgrenzen; nun ist alles ineinandergeschachtelt. Der Slum liegt am Fuß der Mohattam-Berge und wird von den Leuten in Kairo al-Qarafa genannt.

Vittoria Alliata erwähnt die »unendliche Vielfalt von Einzimmerappartements«, die »das luxuriöse Überleben der Toten« bezeugt »in einer Stadt, in der die Lebenden nicht überleben können«. Sie schließt ihr Kapitel mit dem folgenden Satz:

Im Vergleich zu der heruntergekommenen und überfüllten Großstadt, im Vergeich zu dem donnernden Lärm des Verkehrs und dem Durcheinander von Hochhäusern war das hier eine echte arabische Stadt mit ihren Gassen und Höfen, mit ihrer nur von Liedern, Kindergeschrei und dem Ruf des Muezzins unterbrochenen Ruhe und mit der unendich weiten und gestirnten Wölbung ihres Paradieses.

Klingt gut. Leider lese ich in einem neuen Artikel von al Qantara, dass große Teile der Stadt, viele Gräber und Kuppeln abgerissen worden seien – und verantwortlich dafür war Khaled El-Enany, von 2016 bis 2022 ägyptischer Minister für Altertümer. Kürzlich wurde er zum UNESCO-Generalsekretär gewählt. Im Oktober noch hatte die World Heritage Watch (Berlin) geschrieben, er sei an dem »Abriss großer Teile der historischen Nekropole von Kairo« schuld. Wie ist doch alles deprimierend, was man hört! Was also oben zu lesen war, gehört der Vergangenheit an.

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.