10.000 Engel
Zwei Bände mit italienischen Novellen aus dem 19. Jahrhundert stehen hier. 1500 Seiten! Um wieder einmal etwas Italienisches zu lesen, schlug ich zufällig den ersten Band auf und fing an. Und das war eine Geschichte für manipogo! Hat leider wieder mit dem Tod zu tun, jedoch mit einem humoristischen An- und Ausklang. Man muss alles nicht so ernst sehen.
Schöne Geschichte. Sie heißt La Gazza und stammt von Antonio Beltramelli (1879-1930), einem Mann aus Apulien, geboren in Forlí. Der Plot:
Mezzalana ist verheiratet und Vater von Söhnen, die schwer auf dem Feld arbeiten. Er ist 70 Jahre alt und fühlt sich nicht wohl. Darum geht er zu einem Weisen und Heiler, der bedächtig den Kopf schüttelt und ihm noch drei Tage prophezeit. Er könne aber weiterleben, wenn er in der Neumondnacht ein bestimmtes Kraut im Wald pflücke …
Mezzalana ist ein Patriarch, der seine Söhne unterjocht und manchmal seine Frau schlägt, was diese für eine Liebesbezeigung hält. Seltsam. Der »Alte« (o Gott, in 14 Monaten werde ich auch 70, ich fass‘ es nicht!) spannt seinen Esel vor einen Wagen und fährt los. Am frühen Morgen kehrt er zurück, doch er ist so kaputt, dass er nicht mehr aufstehen kann. Man legt ihn ins Bett.
Diese Fahrt hat ihm seine letzten Kräfte gekostet. Was zu seiner Rettung beitragen sollte, ruinierte ihn: böse Ironie. Der Priester wird gerufen und gibt ihm die Letzte Ölung. Mezzalana kriegt es nicht mehr richtig mit. Plötzlich ruft er aus, den Blick auf den Holzbalken über ihm gerichtet: »Seht ihr … Seht ihr sie?« Dann wieder sagt er:
Ich sehe sie … Sie sind da … weiß … gelb … schwarz. Zweitausend, viertausend, zehntausend! Zehn-tau-send!
Eine kleine Frau schreit: »Er sieht die Engel! … Er stirbt wie ein Heiliger … Die Gnade des Herrn ist auf ihm! Er ist ein Heiliger.« Und Mezzalana stößt noch einmal hervor »Ich sehe sie … Ich sehe sie!« mit den Blick zum Deckenbalken, bevor er seinen letzten Atemzug tut. – Er wurde begraben. Ein Testament gab es nicht, und eine Durchsuchung des Hauses bis in den letzten Winkel förderte kein Geld zutage. Der hartherzige, auch geizige Patron hatte seiner Familie nichts hinterlassen; die Söhne mussten sich Arbeit suchen, das Haus wurde verkauft, und Mezzalanas Frau starb auch.
Zehn Jahre später wollten die Besitzer das Haus umbauen. Sie arbeiteten am Deckenbalken, als dieser sich öffnete und einen Geldregen auf sie niederließ. Geldmünzen fielen zu Boden, und als man sie zählte, waren es 10.000 Lire, – die der Verstorbene wohl dort oben versteckt hatte. Das waren wohl die Engel, die er sah …
Der Erzähler schließt mit den Worten:
Jedoch war dies nur wenigen bekannt, und immer noch sprach man bei Andachten vom gesegneten Tod des »San Mezzalana«, während seine Söhne verarmt auf den Straßen dieser Erde herumirrten.