Sport und das „ökonomische Delirium“

Zufällig fand ich ein Blatt, auf dem ich Auszüge aus einem Aufsatz von Gunter Gebauer geschrieben hatte. Es geht um Sport, und wir wissen ja, dass in 4 Tagen die Fußball-Bundesliga wieder beginnt. Gebauer, heute 81 Jahre alt, war Professor an der Freien Universität Berlin: Sportsoziologe. Solche sind sehr selten. Seine Ausführungen sind natürlich soziologisch geprägt, doch man versteht etwas.

Ich glaube, als ich etwas über Sport und außergewöhnliche Bewusstseinszustände schrieb, habe ich Gebauer in Berlin einmal getroffen. Das kann 30 Jahre her sein. Irgendwo gibt’s mein Buch noch, es heißt Magischer Sport.

Gebauers Aufsatz hieß Die künstlichen Paradiese des Sports (verfasst mit Gerd Hortleder) und erschien in dem Band Sport – Eros – Tod (Frankfurt 1986). Die Tour de France ist ja Ende Juli zu Ende gegangen, Fußball gespielt wird anscheinend immer, und heute verfolgen Zuschauer auch die Frauen-Wettbewerbe. Die Auszüge:

Es hat den Anschein, als ob unsere Gesellschaft in ihrem ökonomischen Delirium, angeregt durvh ihr unstillbares Bedürfnis nach Äquivalenz, dazu verurteilt wäre, die Schauspielfunktion zu verstärken und sie unendlich weit über ihren traditionellen künstlerischen Bereich hinaus auszudehnen.  

Jeder sportliche Wettkampf bietet sich dem Betrachter als eine rituelle und aktuelle Praxis dar, die eine bekannte soziale Gruppe (Spieler/Publikum) vereinigt und die dieser Gruppe Anlaß gibt, sich zu betrachten, sich wiederzuerkennen und sich in ihrer Einheit, trotz Spaltungen und Gegensätze, zu feiern, ihre Identität jenseits und entgegen ihrer Differenzen. Kurz, im Sport feiert sich die Gesellschaft, sie gibt sich selbst das Spektakel ihres Duell-Charakters: wie bei allen Festen, wo die Menge, wie Alain zutreffend bemerkt, damit zufrieden ist, sich ihrer eigenen Gegenwart zu erfreuen, Zeichen auszutauschen, einfach aus der Lust am Austausch. Im Sport will sich die Gesellschaft ihre Realität bestätigen, sich von ihrer, wenngleich konfliktvollen, Existenz überzeugen, von ihrer Macht der Unterordnung und Überschreitung, von Ordnung und Unordnung, von ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Risiko … Kurz, der Sport stellt sich fundamental als Fest des gezähmten Bürgerkriegs und in dieser Eigenschaft als nützlich dar. 

Gebauer erwähnt die Riten der Religionen, die auf das Verbum religio (verbinden) oder relegare (versammeln) zurückgehen und Sicherheit vermitteln. Es wird gern die Nationalhymne gesungen. Auf dem Feld, im Stadion, in der Halle, wird die Konfrontation dramatisiert und theatralisiert, wir beobachten die Theatralität des Körpers und die emotionale Mimik …

Ebenso kann man auf die durch fetischistische Rituale hervorgebrachte Theatralisierung hinweisen, die bestimmten entscheidenden Handlungen vorhergeht, diese begleitet oder ihnen folgt, um das Schicksal zu beeinflussen oder anzubeten: das Zeichen des Kreuzes vor Strafstößen, Finalläufen, Kunstsprüngen oder Skiabfahrtsläufen (…) 

Man kann wirklich sagen, dass die sportliche Demonstration in ihrem Willen, das Publikum zu verführen, eine immer »monströsere« Theatralisierung verlangt. (…) Die Zuschauer werden zugleich selbst Akteure oder Handlungselemente eines anderen potentiellen Spektakels für die Blicke von Dritten, im Fall der Fernsehreportagen von Fernsehzuschauern. 

 

Das wurde vor 40 Jahren geschrieben, als die Sportwelt noch vergleichsweise gemütlich war. Vielleicht müsste man heute noch mehr über dieses ökonomische Delirium (schönes Wort) schreiben, diesen gnadenlosen Verwertungszwang, der Phänomene auspresst, bis sie nichts mehr hergeben.

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