Bestandsaufnahme II

An der Freiburger Universität mit einer Mitarbeiterin gesprochen: Nächstes Jahr wird es die »Selbstverbuchung« geben; die netten Verbucher und Verbucherinnen treten in den Schatten, der Nutzer muss alles selbst machen. Unsere Vereinzelung schreitet voran. Wir werden vereinzelt. Man vereinzelt uns.

Bei meiner Nürnberg-Reise nötigte man uns im Albrecht-Dürer-Haus und im Dokumentationszentrum Reichsparteigelände je ein tragbares Gerät auf (»ist im Eintritt inbegriffen«) mit den Kommentaren zu den einzelnen Stationen. Man muss Zahlen eingeben, dann hört man den Kommentar, und so laufen alle mit diesen Geräten am Ohr umher: wie Zombies, getrennt von den anderen Besuchern.  

In vielen Cafés gibt es Selbstbedienung, und später schiebt man das Tablett mit den benutzten Sachen in einen bereitstehenden Schrank. Bald tippen wir wie im Sushi-Laden in Zürich die Speisen, die wir wollen, in ein Display, und sie rollen herbei, und zum Zahlen tippen wir vielleicht unsere VISA-Nummer ein. »Danke. Zahlung erfolgt.«  (Dazu eine ganz nette Geschichte aus futura9.de.) Wir ziehen Nummern im Reisezentrum und holen Tickets aus dem Automaten. Alles unsagbar praktisch. 

Man hält es für praktisch, wenn die Leute, um (in Nürnberg) ein Fahrrad zu entleihen, mit dem Handy eine Nummer an eine andere Nummer senden, worauf eine SMS mit einer dritten Nummer zurückkommt, die … das Zahlenschloss öffnet. Ich denke an den unmotivierten Kubanern, der neben 20 Leihrädern eines Hotels im Gras lag. So einen hätte ich gern, ich gebe ihm 50 Euro Kaution, er verrät mir die Nummer, und später kriege ich die Kaution wieder zurück.  

Aber alle sind so motiviert, und alles ist angeblich so einfach, dass es keiner kapiert. Nein, das ist nicht meine Welt, diese mit deutscher Perfektion ausgestaltete Plastik-Welt, in der ich nur noch herumtippe und herumrätsele, wie etwas funktioniert. Aber es ist nicht nur Deutschland. Tina Stadlmayer, die neu in London ist, hat dort Ende Juli einen Supermarkt mit Selbstscanner entdeckt, klar, auch das wird zu uns kommen.  

Ich sehne mich nach Italien, wo alles so bleibt, wie es ist, wo man plaudern will und es krankhaft fände, überall ein technisches Gerät dazwischenzuschalten.  

Dann haben sie in Landsberg am Lech auch noch das einzig verbliebene bayerische Wirthaus umgebaut, den »Mohren« am Hauptplatz. Dunkel war’s drinnen, sogar eine Danksagung neben Bild von Franz Josef Strauß hing da, ausgestopfte Tiere gab’s und bayerische Wappen, und man aß da seinen Schweinebraten. Jetzt sind die Wände hell, und alles, was an Bayern erinnert, hat man hinaus-exorziert. Ein Kellner ist Serbe oder Italiener, dünn wie ein Stecken, und er läuft mit der kurzen Lederhose herum, aber vor dem Umbau war das okay.  

Jetzt gibt es immer noch guten Schweinebraten (9 Euro 40), und er wird auf einem ovalen Teller serviert, der Wurstsalat dafür auf einem tiefen Teller mit extrem breitem Rand, und man fragt sich, was das soll. Der Blick geht durch das kastrierte Lokal und fällt auf den ovalen Teller, den heute alle für innovativ halten, und man wird traurig ob so viel Dummheit.  

Gegen zehn lief draußen eine Gruppe Leute vorbei, der erste trug eine Hellebarde, vermutlich die historische Stadtführung, und so haben sie Bayern in die Geschichte verbannt. Es gibt kein bayerisches Wirtshaus mehr in Landsberg, und wir werden immer mehr zu Technik-Zombies im Lego-Niemandsland

2 Kommentare zu “Bestandsaufnahme II”

  1. Mario

    Lieber Manipogo, wie wahr!
    Letztlich läuft vielleicht alles auf die Frage hinaus, wie groß oder klein die Geräte sind, auf die uns der technische Fortschritt, der herbeigesehnte, reduzieren wird. Aber andererseits: Alles schon mal dagewesen, du erinnerst dich:
    http://futura9.de/2009/09/15/der-chinese-tanzt/
    Beste Grüße und der Seite weiterhin gutes Gedeihen
    M. vulgo H.

  2. Regina

    Lieber Manfred,
    ja, schrecklich! Ich habe gerade eine Familie besucht, jeder hat sein Handy mit der zugehörigen Einkaufs-AP dabei, und sollte einer bemerken, dass im Kühlschrank was fehlt oder was besonderes gewünscht wird, dann wird das eingetippt und wer kauft jetzt ein? Sicher gibt es eine Ap! Und der Einkaufszettel mit lustig selbst gezeichneten Smileys und Blümchen ist passé. Aber alle sind begeistert, weil es doch so praktisch ist und schnell. Viele Grüße Regina