Die richtige Telefonnummer

Um einen rettenden Anruf, der im Diesseits getätigt wird, geht es heute. Auf der Suche nach den Phone Calls stieß ich auf einen Blogbeitrag von Timothy Ferriss, und das ist mal eine weniger gruselige Geschichte. Doch die Anrufe von Toten sind ja auch schön: Sie zeigen, dass, wie ich meine, die Verstorbenen noch da sind, uns vielleicht ganz nah.

Und gerade als ich die Geschichte beginnen wollte, schob mir das nervige Virenschutzprogramm ein Insert auf den Schirm und wies auf Voice-Phishing oder kurz Vishing hin: Scheinbar vertrauenswürdige Personen (aus dieser Welt) wollen uns am Telefon persönliche Daten entlocken. Koinzidenz! Mit einer Schmeichelstimme könnte das gelingen; man lässt sich womöglich überrreden. Also passt auf!

Der Beitrag im Ferriss-Blog erschien am 29. Januar 2020. und heißt Die Geschichte eines seltsamen Telefonanrufs. Ferriss bekam sie von Auburn Sandstrom, die heute in Akron im Bundesstaat Ohio unterrichtet: eine wahre Geschichte. Ihr bekommt eine Kurzversion. Die Erzählerin ist 29 Jahre alt, der Ort Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan, das Jahr 1992. Sie liegt zusammengekrümmt auf dem Boden einer Wohnung, hat eine Panikattacke und meint, eigentlich sei sie seit 5 Jahren in der Krise. Nebenan schläft ihr kleiner Sohn. Ihr Mann ist unterwegs, um Stoff zu kriegen, von dem er ihr nichts abgeben wird.

Mit 24 lernte sie einen 40-jährigen Poeten aus Detroit kennen, einen schönen Mann. Er brachte sie mit der Droge zusammen. Jetzt, mitten in der Nacht, meint sie, alles falsch gemacht zu haben, und alles werde immer schlimmer werden; man würde ihr letztlich den kleinen Sohn wegnehmen. In der Hand hatte sie einen Zettel mit der Nummer eines christlichen Beraters, der ihr zuhören würde. Den rief sie also um zwei Uhr morgens an. »Hallo!« antwortete er. Sie: »Ich hab die Nummer von meiner Mutter. Glauben Sie, Sie könnten etwas mit mir reden?« Der Mann kroch anscheinend aus dem Bett und fragte, was los sei.

Allmählich rückte sie mit allen Wahrheiten über ihr Leben heraus. Ihren Mann liebe sie, doch manchmal schlage er sie, und er habe schon einmal versucht, sie und den Kleinen aus dem fahrenden Wagen zu stoßen. Sie schreibt:

Und dieser Mann verurteilte mich nicht. Er leistete mir einfach Gesellschaft und war anwesend und hörte mir zu und hatte so eine Freundlichkeit und eine solche Sanftmut. »Erzähl mir mehr … Oh, das hat sicher wehgetan. … Oh.« … Und er blieb die ganze restliche Nacht bei mir, redete und hörte zu, und er war da, bis die Sonne aufging. Dann fühlte ich mich ruhiger. Die schlimmste Panik war vorüber, ich war okay. Ich hatte das Gefühl, ich könnte jetzt mein Gesicht waschen und den Tag bestehen. 

Sie bedankte sich bei ihm und räumte sogar ein, er dürfe ihr nun ein paar Bibelverse vorlesen, das wäre in Ordnung. Er meinte, wenn es ihr geholfen habe, wäre das doch wunderbar. Auburn fragte noch, seit wann er denn ein christlicher Berater sei. Da wurde ihr Gesprächspartner ernst.

Eine lange Pause tritt ein. Ich höre ihn seufzen. »Auburn, bitte häng nicht auf«, sagt er. »Ich wollte das eigentlich nicht erwähnen.«
»Was?« frage ich.
»Du legst nicht auf?«
»Nein.«
»Ich habe Angst, dir das zu sagen. Aber: Die Nummer, die du angerufen hast …« Wieder hält er inne. »Das ist die falsche Nummer.«

Sie legte nicht auf. Sie redeten noch eine Weile. Sie erfuhr nie den Namen des Mannes und rief ihn nie zurück. – Und erkannte:

Mir war gezeigt worden, dass es diese völlig zufällige Liebe im Universum gab. Dass sie bedingungslos sein konnte. Und dass etwas von ihr mir zugedacht war.

Sie bekam ihr Leben wieder in den Griff, und 20 Jahre später verließ ihr Sohn die Princeton-Universität mit allen Ehren.

 

ξ ψ Σ

Es war also doch die richtige Nummer. – So etwas gibt es. – Ach, und dann denkt man an Instagram und die Geschichten über junge unglückliche Menschen (oder prominente unglückliche Menschen), die sich das Leben nahmen in einer Krise, die ihnen unerträglich vorkam; und dass sie in dieser tragischen Phase keine Nummer hatten, die sie anrufen konnten; dass niemand bei ihnen war. Völliges Alleinsein und Verzweiflung. – »Ruf mich an, wenn du reden willst!« könnte man jemandem sagen, der traurig wirkt. Und die eigene Nummer auf einen Zettel schreiben. So etwas rettet manchmal ein Menschenleben.

Die Nummern der Telefonseelsorge: 0800.1110111 und 0800.1110222.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.