Eine bessere Welt (2)

Vor einem Monat hatten wir sie, die bessere Welt, mit der Andrzej Wajda den Film meinte und wohl auch das Theater. Ich habe noch viel mehr Folgen dieser 222-teiligen Interview-Reihe angeschaut und muss ein paar Details daraus loswerden, weil das so gut ist. Es ist immer interessant, wie kreative Menschen denken. Sie wollen eine Botschaft übermitteln, und die Frage ist: Wie geht das am besten?

Dazu muss man sich einerseits in die Zuschauer hineinversetzen, andererseits muss man auch eine Ahnung davon haben, wie gewisse theatralische Kunstgriffe wirken und wie sie ankommen. (Manchmal irrt man sich dabei; doch daraus lernt man.) Wajda drehte Filme, ging dann aber auch ans Theater, sprang zwischen diesen beiden Welten hin und her. Auch für Schauspieler ist das schwer.

Andrzej Wajda erzählte eine Geschichte von Zbigniew Cybulski (1927-1967), der sein liebster Hauptdarsteller war. Dieser sprach auf dem Theater, als er plötzlich abbrach. Alle waren verstört. Da sagte Cybulski zu den Zuschauern: »Das war jetzt nicht richtig. Ich fange nochmal an.« Wajda sagte, bei Filmaufnahmen könne man das so machen: ›Drehen wir die Szene noch einmal.‹ Im Theater ist so ein Vorgehen natürlich verpönt. – Einmal hätten im Stary Teatr in Kraków alle auf Cybulski gewartet. Eine Minute bevor der Vorgang hochgehen sollte, war er immer noch nicht da. Plötzlich hörte man draußen das Röhren eines Motorrads, und der Schauspieler kam im Lederdress ins Theater, erklomm die Bühne und verschwand hinter den Kulissen …

Bei einer anderen (traurigen) Geschichte dachte ich an den manipogo-Beitrag Tod eines Schauspielers von vor 4 Jahren (Link unten). Durch Internet wissen wir genau das Datum: der 28. April 1971. Im Stary Teatr fand die Generalprobe zu Die Teufel von Fjodor Dostojewski statt. Auf der Bühne klammerte sich Kazimierz Fabisiak plötzlich an einem Stuhl fest und stürzte dann zu Boden. Die anderen Mitwirkenden wunderten sich nicht; sie hielten es für einen Einfall des Regisseurs, der allerdings sofort wusste: Das ist ernst, ein Schauspieler fällt anders. Wajda sprang auf die Bühne und alarmierte die anderen. Die Notärzte waren nach 3 Minuten zur Stelle und versuchten den Schauspieler wiederzubeleben: vergebens. Er wurde 68 Jahre alt.

Alexander Fabisiak, der Sohn, hatte bei dieser Aufführung seine erste Rolle. Alle waren betreten. Es gab eine Schweigeminute. Andrzej Wajda zögerte nur kurz und feuerte dann seine Schauspieler an: Sie sollten trotzdem spielen. Ein anderer Akteur sprang ein, und es wurde eine denkwürdige Aufführung.

Überhaupt: Dostojewski! Bei einer Probe meldete sich ein junger Mann mit einem Manifest: Wajda sei anti-nationalistisch, man müsse ihm die Arbeit verbieten und so weiter. Die anderen verteidigten ihn. Der Regisseur erinnerte sich später, es sei wie bei Dostojewski gewesen: Da treten die Neurotiker immer öffentlich auf, und Panik greift um sich. Für ein anderes Stück strich er Szenen, ließ aber die Dialoge intakt, die bei Dostojewski perfekt sind und seine Charaktere illustrieren. (Rechts: Stanislawski, der eine Schauspielschule begründete.)

Wajda spürte manchmal, dass ein Stück vor nur 100 oder 120 Zuschauern besser ankommen würde. Einmal spielten sie auf einer runden Bühne (Schauspieler mögen es nicht, die Zuschauer im Rücken zu haben), und einmal ließ er ein verwinkeltes Bühnenbild bauen, und die Zuschauer saßen ganz in der Nähe. Die Szenerie wurde ganz intim, als spielten die Schauspieler nur für sich.

Und einmal wurde ein Gesang des antiken Chors in Antigone von Sophokles geradezu zu einer politischen Demonstration gegen die Regierung, weil Wajda die Chormitglieder als Fabrikarbeiter mit Transparenten auftreten ließ. Die Zensur konnte nichts dagegen sagen, denn am Text war kein Wort verändert worden.

Und dann gibt es freilich auch Glücksmomente. Manchmal tritt eine ungeahnte Dynamik auf, das Stück stürmt voran und begeistert das Publikum. Das ist wie im Sport, wenn einer Mannschaft alles gelingt. Man kann es nicht erklären. Zum Glück nicht.

∇ ∅ ∇

Vor ein paar Tagen sah ich in Mannheim mit meiner ebenfalls kinobegeisterten Nichte Franziska den neuen Film »Sentimental Value« von Joachim Trier, der einen Preis in Cannes bekam. In diesem Film geht es auch um Theater und Kino: Ein alter schwedischer Filmregisseur (Stellan Skarsgård) will eine (traumatisierende) Phase seines Lebens auf die Leinwand bringen (den Tod der Mutter) und dafür seine beiden Töchter einspannen, die er immer etwas vernachlässigt hatte. Leben und Kino greifen ineinander, und nicht immer weiß man sofort: Sind wir auf der Bühne, auf dem Set, in der Filmhandlung, also im Leben?

Dabei: Wir sehen ja nie das wahre Leben, wir sehen immer nur das Leben, wie uns das Kino es zeigt. (Bresson wehrte sich dagegen, siehe unten Die Kunst der Verwirrung.) Einen Film über das Drehen eines Films zu drehen, was ist es? Der Beobachter beobachtet sich selbst, und wir erleben mit, wie durch die Hilfe von hunderten Mitarbeitern ein Ausschnitt aus dem Leben entsteht, aus diesem dahinfließenden unendlichen Leben … und was wir bekommen, ist immer nur ein Schnipsel, ein Clip, eine mögliche Lösung, denn wir müssen das Leben zerschneiden, um über es nachdenken zu können. Und einen Film zu drehen, ist ja auch Leben, es vollzieht sich vor und hinter der Kamera. 

Filme übers Filmedrehen: Da fällt mir »Alles zu verkaufen« von Wajda ein (Link unten), »Der Stand der Dinge« von Wim Wenders (1982) und natürlich der berühmteste Film überhaupt über einen Regisseur: 8 ½ von Federico Fellini (im Bild vom Set oben: links), mit Marcello Mastroianni (rechts). Und noch einer: »A Man in Love« von Diane Kurys (1987; über den italienischen Schriftsteller Cesare Pavese). 

 

 

 

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