Der Dichter: was er ist

Ich habe ein Zitat gefunden, das ich nicht irgendwo hineinstopfen will, weil es so gut ist. Es ist aus der Erzählung Der Meteor von Karel Čapek (1890-1938). Ein Chirurg behandelt einen Mann, der einen Flugzeugabsturz überlebt hat; eine Krankenschwester spricht über ihn, und ein Hellseher und ein Dichter erzählen dessen Lebensgeschichte. Alles Fiktion, aber mehr bekommen wir nicht.

Der Dichter lässt dann noch einen Exkurs über seine Arbeit los. Der Hellseher sah etwas, doch der Dichter sah auch etwas und malte es sich aus.  Und wie er, Čapek, das tut! Es spielt auf den Antillen, in Kuba und Haiti, und es ist fiebrig und hitzig geschrieben, wie in Trance!

Der tschechische Autor stand für das Jahr 1938 weit oben auf der Liste der Anwärter für den Literatur-Nobelpreis, und man meint, nach der Sudetenkrise und dem Münchner Abkommen (das Münchner Diktat, sagten die Tschechen) habe man die Deutschen nicht provozieren wollen. Pearl S. Buck bekam den Preis. Die Tschechoslowakei wurde zerschlagen, die deutsche Armee besetzte am 15. März 1939 die »Rest-Tschechei«. Karel Čapek zog sich Ende des Jahres eine Lungenentzündung zu und starb am 25. Dezember 1938.

Dem anfänglich begeisterten Dichter kommen Zweifel. Er sagt:

Nun ist mir klar – was ich für ein treffliches und plausibles Urteil hielt, war, genaugenommen, nichts als eine Laune, an der ich Gefallen gefunden hatte, darum vermag ich meine Erzählung nicht mehr zu schreiben. … Ich kann mir ausdenken, was ich will, aber nur, wenn ich selbst daran glaube. Sobald der Glaube erschüttert ist, dass es so gewesen sein könnte, mutet meine Phantasie wie klägliche und kindische Stümperei an. 
(…)
Aber auch das Bedauern angesichts der zunichte gemachten Arbeit drückt nicht die Trauer über die Trümmer einer Erzählung aus. Wissen Sie denn nicht, dass unter dem Trümmerhaufen ein Menschenleben begraben liegt? I bewahre, werden Sie sagen, das Leben war doch nur Fiktion, es war eine zum Zeitvertreib erfundene Geschichte. Ach, Menschenskind, eben das ist seltsam: es ist nicht so ganz sicher, dass dieses Leben nur erfunden ist; und wenn ich es recht bedenke, möchte ich sagen, es war mein eigenes Leben. Ich bin’s. Ich bin das Meer, der Mann, und der aus dem Schatten der Lippen gehauchte Kuss kommt von mir; der Mann saß am Leuchtturm auf Hoe, denn ich saß am Leuchtturm von Hoe, und wenn er auf Barbados oder Barbuda gelebt hat, sei’s dem Herrgott gedankt, dass ich endlich dorthin gelangt bin.

Das alles bin ich; ich denke mir nichts aus, ich spreche lediglich aus, was ich bin und was in mir ist. Und wenn ich über Hekuba und die babylonische Hure schriebe, wäre es über mich; ich wäre die Greisin, die wimmert und sich die runzligen, sackartigen Brüste zerkratzt, ich wäre dieses Weib, das zerstört ist von der Unzucht in den behaarten Armen des Assyrers, des Mannes mit dem gefetteten Bart. Jawohl, Mann und Frau und Kind. Dass Sie’s wissen – ich bin’s: ich bin der Mensch, der nicht bis zu dem Ziel geflogen ist. 

(aus: Karel Čapek, Hordubal, Der Meteor, Ein gewöhnliches Leben. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989; S. 210/211)

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Die deutsche Übersetzung aller drei Erzählungen wurde erst veröffentlicht in dem Jahr, als die Mauer fiel. Zwei Jahre später starben Dürrenmatt und Frisch, und besonders Max Frisch hat einmal gesagt, er probiere »Geschichten an wie Kleider«, und im Stiller und in Mein Name sei Gantenbein hat er das durchexerziert. Wir haben vermutlich auch Reinkarnationserinnerungen; wer weiß, was da alles auftaucht, wenn wir uns tranceartig dem Schreiben hingeben. Außerdem sind wir, die Menschheit, eine Familie. Auf unserer Türkei-Reise habe ich manchmal Leute angeschaut und mir vorgestellt, ich sei sie; all diese Leben, jeder unterwegs irgendwohin, jeder mit seiner Geschichte und der Hoffnung auf etwas Schönes, eine Erfüllung! Alle sind wir so.

 

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