Mattie sieht sich selber zu

Der Film True Grit brachte mich wieder auf ein Problem, das geklärt werden wollte. Dazu gab es ein Zitat in einem meiner Notizbücher, das ich schon viele Male herausgesucht habe; dann war es wieder fort. Nun aber halte ich es für manipogo fest. Werde ich mich verständlich machen können? Das mögliche Scheitern macht das Schreiben erst zum Abenteuer.

Am Anfang von True Grit glimmt ein Licht, das größer wird, und wir hören die Stimme von Mattie: »Wenn man erst 14 Jahre alt ist und den Vater verloren hat, dann … Für alles muss man bezahlen in diesem Leben, und nichts ist kostenlos, außer: Gottes Gnade.« Die Stimme verklingt, und wir sehen Mattie Ross mit ihren Zöpfen, und die Handlung beginnt. Am Ende hören wir sie wieder aus dem Off sprechen, und sie erscheint, nun 25 Jahre älter.

In einem in der Ich-Form geschriebenen Roman erleben wir die Handlung aus der Perspektive des Erzählers, aus dessen Augen; im Film sehen wir die erzählende Person von außen. Nun das Zitat: »Seitdem die Trennung der primären und der sekundären Identifikation den Zuschauer gleichzeitig an zwei Orte versetzt hat — hier hinter die Kamera und dort in die handelnde Person —, könnte man sagen, dass ich (als handelnde Person) von mir selbst beobachtet werde (der Kamera).« 

Der Autor sieht sich selbst (2007, krank)

Das Zitat stammt aus dem Buch The Time of the Crime (2008) von Domietta Torlasco, einer Dozentin für vergleichende Literaturwissenschaften an der privaten Northwestern University in Evanston, Illinois (20 Kilometer nördlich von Chicago). Es wurde in der englischen Zeitschrift Film-Philosophy von Alan Fair besprochen. Das war eine Bestätigung: Frau Torlasco hat das also auch gesehen.   

Es hat sich die Konvention herausgebildet, dass der Zuschauer die erzählende Hauptperson sieht und nicht eine Leerstelle. (Ich erinnere mich aber an einen Film mit Humphrey Bogart, Das unbekannte Gesicht, bei dem eine Hälfte konsequent durch dessen Augen gefilmt ist.) Dennoch: Wenn ich den Film der Coen-Brüder sehe, höre ich Mattie sprechen, verwandle mich sozusagen in sie, identifiziere mich mit ihr – und sehe dann ›mir selber‹ zu.  

Jeff Bridges im Film „Fearless“ von Peter Weir (1994)

Im Leben sehe ich alles ›dort draußen‹, außer mein Blick fällt auf mein Spiegelbild. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan sagte: »Ich kann nur von hier sehen, aber ich kann von allen gesehen werden.« Ich bin zwar das konkurrenzlose Zentrum meines Universums, aber manchmal investiere ich beim intensiven Schauen Emotionen und also Energie, so dass ich fast das Gefühl habe, mich selbst zu sehen. Frau Torlasco erwähnt Maler wie Paul Cézanne, die das Gefühl haben, von dem Gegenstand, den sie malen, beobachtet zu werden.  

Vielleicht ist aber dieses ›dort draußen‹ meine Innenwelt, die mir zusieht, und es gibt eine tiefe Verbindung von mir zu allen anderen Wesen, belebt und unbelebt. Ich sehe anderen zu und sehe gleichzeitig mich. Was ich tue, ist stets eine Frage; was mir zustößt, ist stets eine Antwort. Ich sage: Du bist ich, und du sagst dasselbe. Jeder dreht seinen eigenen Lebensfilm, ohne sich selbst zu sehen; dabei sieht er sich beständig: dort draußen, im anderen Menschen, in der Welt.      

 

 

Ein Kommentar zu “Mattie sieht sich selber zu”

  1. christine

    Sehr gut der letzte Absatz, unterschreibe ich voll, vor allem den 3. Satz. – Und dann macht man manchmal wie einen Schritt zur Seite und hört sich selber zu – kann schrecklich sein!