Der Hausarzt
Meine Mutter wollte etwas über eine Krankheit nachschlagen und zerrte das Buch Fragen wir unseren Hausarzt hervor, aus dem Jahr 1952. Das Bild auf dem Umschlag faszinierte mich (unten dann sehen wir es): Denn da steht der Hausarzt links, ein älterer würdiger Herr. Er ist schwarz gekleidet wie ein Priester und hält einer jungen Mutter ein Medikament hin, als wär’s ein Sakrament: Gehe hin in Frieden, meine Tochter.
Ja, früher. Der Arzt, der Pfarrer, der Schullehrer und der Bürgermeister waren die Respektspersonen im Dorf; sie verkörperten Sittlichkeit, Weisheit, Gott und den Staat. Als das Buch erschien, 1952, war der Arzt noch der Halbgott in Weiß. (Darum ist der schwarz gekleidete Arzt auf unserer Abbildung so interessant.) Mit den grässlichen Menschenversuchen nationalsozialistischer Ärzte hatten sie nichts zu tun. 1952 war sieben Jahre nach Kriegsende. 1957 bin ich geboren. Unglaublich, so kurz nach dem Krieg, der heute den Schülern, wie ein befreundeter Lehrer schildert, wie graue Vorzeit vorkommt.
Ein Einschub: Das Buch von 1952 (Preis damals: 4,80 Mark) trägt moderne Züge, da unverschämt Product Placement und Sponsoring betrieben werden. Das Sakrametn oder die Hostie, die der Arzt der Mutter hinhält, ist eine Puderdose von Klosterfrau Melissengeist und wird auch so präsentiert, dass jeder das damals bekannte Logo erkennt. Innen heißt es: »Das Umschlagbild stellte die Fabrik der bewährten Heilmittel Klosterfrau Melissengeist und Aktivpuder, die Firma M. C. M. Klosterfrau, Köln, zur Verfügung.«
Schön ist in der Bildmitte, genau zwischen Arzt und Mutter, auch der Klosterfrau Melissengeist zu sehen mit den drei Klosterschwestern auf der Packung. Und die Rückseite ziert die Klosterfrau-Werbung. Die drei Produkte standen in jedem Haushalt, und es war auch noch eine christliche Zeit. Professionelle Arbeit jedenfalls! Die Pharmabranche war immer schon vorn dran, wenn es darum ging, Geld zu verdienen.
Im Jahrzehnt darauf, in den 1960-er Jahren, geschah Außerordentliches. Auf vielen Gebieten in Westeuropa bröckelten die Autoritäten. Zum Teil wichen Sie dem äußeren Druck: Die Studentenproteste 1968 führten zu Reformen an den Universitäten. Die Beatles und die Stones waren auch Ausdruck einer Zeitstimmung; freie Liebe, Experimente in den Künsten, lange Haare bei Männern und die Weltraumfahrt. Die Roten (SPD) kamen an die Regierung. Demokratie! In der Hypnose setzte man nicht mehr auf Befehle an den Probanden, sondern auf Kooperation mit ihm.
Und das führte auch dazu, dass der Hausarzt von seiner selbstherrlichen Haltung abging und freiwillig von seinem Podest herabstieg. Die Patienten wurden zu Kunden, auch wenn sich das in 50 Jahren nicht überallhin herumgesprochen hat. Manche Ärzte kehren gern noch den Halbgott heraus. Doch der Halbgott 1952 redete vermutlich mehr mit seinen Patienten, als es der halbierte Halbgott heute tut ― schon deshalb, weil es eine ärmliche Zeit war und es kaum bildgebende Verfahren gab. Und auch keinen Computer.
Manche Ärzte schauen, wenn ihr Blick nicht gerade auf ein Röntgenbild oder die Daten einer Blutuntersuchung fällt, wie hypnotisiert auf ihren Bildschirm, auf dem die früheren Besuche des Patienten abgebildet sind. Der Arzt oder die Ärztin gibt auch keine Medikamente ab, sondern verschreibt solche. Mit diesem Zauberzettel in der Hand geht es dann in die Apotheke, wo der Pharmazeut aus einer Geheimschublade das Zaubermittel hervorzaubert. Voilà!