Münder ohne Ohren

Man hat so viele Sachen im Hirn, aber doch recht zuverlässig gespeichert. Als mein Blick im Stadion des SC Freiburg auf die Aufschrift Block L fiel, fiel mir ein Artikel ein, der in einem Ordner zu Hause schlummerte: Overcoming the Dreaded L-Block. L-Block nannte ein Autor das Problem, dass Ärzte nicht zuhören (listening block); anscheinend ist der März bei manipogo der Medizin (und dem Licht) gewidmet.

Ich fand den Artikel und fand ihn so interessant, dass ich den ersten Teil übersetze. Er erschien in der Zeitschrift Alternative Therapies, Band 2, Nummer 5 (September 1996). Der Autor, der Arzt Jeff Kane, arbeitete damals im Sutter Cancer Center in Kalifornien. (Im Internet habe ich noch einen Blog-Beitrag von ihm aus dem Mai 2013 zu dem Thema entdeckt.)

»Ich bereitete mich vor, um vor einer größeren Gruppe von Ärzten über meine Arbeit zu sprechen – die Unterstützung von Selbsthilfegruppen Krebskranker – und redete davor mit dem Internisten, der mich vorstellen sollte.
›Was machen Sie denn genau?‹ fragte er.
›Im Grunde höre ich Patienten zu.‹
›Hey, das mache ich auch. Ich verbringe die ganze Zeit damit, zu meinen Patienten zu reden.‹

Ich kommentierte das nicht weiter. Er bat mich, für ihn ein paar autobiografische Notizen aufs Papier zu werfen. Ich führte dabei auf, was ich erwähnt hatte – dass ich Patienten zuhörte. Als der Internist mich vorstellte, las er direkt von meinen Aufzeichnungen ab: ›Dr. Kanes Arbeit besteht darin, hauptsächlich zu Patienten zu reden …‹ Sehr zu meinem Missvergnügen erkannte ich in ihm ein weiteres Opfer jener kaum erkannten Epidemie der Gefürchteten L-Blockade – eine virtuelle neurologische Abneigung, zuzuhören.

Obwohl sie in der ärztlichen Profession fest verwurzelt ist, kann die L-Blockade überall beobachtet werden. Ich bat einen befreundeten Akupunktur-Arzt, mir zu sagen, wie er seine kommunikativen Fähigkeiten einschätze. ›Ich denke, ich bin ziemlich gut darin‹, erwiderte er. ›Ich sage meinen Klienten alles. Ich sage ihnen genau, was ich tun und nicht tun werde, was sie erwarten können und wie sie mich zu fassen kriegen, wenn sie Probleme haben.‹

Die L-Blockade ist weniger eine Sache allein der Ärzte, sondern ein Element unserer gegenwärtigen Kultur. Wir haben uns stillschweigend darauf geeinigt, dass Kommunikation aus der Sprache besteht und sonst nichts; wir sind wie Münder ohne Ohren. Wie viele von uns auch von dem Syndrom betroffen sein mögen – es ist tief in uns drin und aktiv, auch wenn es unsichtbar bleibt.

Seien Sie ehrlich: Hören Sie wirklich Ihrem Freund zu oder denken Sie nicht eher daran, was Sie als nächstes sagen werden?«

 

»Die eingespielte Praxis, die Tiraden überempfindlicher Patienten über ihr Leiden zu vernachlässigen, führt dazu, dass wir das Gesundheitswesen als eine Verteilmaschine für Güter und Dienstleistungen betrachten. Als ich mich kürzlich in ein Internetforum über mögliche Reformen im Gesundheitswesen einschaltete, fand ich nur Wirtschaftsprofessoren, die sich Zahlen  zuwarfen und sich überlegten, wer für was zahlen müsse. Einer bewies mir sogar, eine Bypass-Operation koste eigentlich weniger, als gesund zu essen und seinen Körper zu trainieren. Kein Wunder darum, dass wir, wie Arthur Barsky einmal sagte, immer mehr für die Gesundheit ausgeben, ohne uns besser zu fühlen. Ein Freund aus Mumbai drückte das nett aus: ›Ihr im Westen habt eine Menge Know-how‹, sagte er. ›Was euch fehlt, ist mehr das Know-why [wissen, wie].‹

(…)
Zwei Freunde erzählten mir, unabhängig voneinander, sie hätten von ihrer Krebsdiagnose  durch eine Botschaft auf dem Anrufbeantworter erfahren. Ein anderer sagte mir, sein Urologe habe seine Impotenz mit ihm im voll besetzten Wartezimmer erörtert. (…) Wenn ich solche Geschichten höre, frage ich mich, was wir Ärzte für unsere Mission halten. Wenn wir meinen, in einem Metier zu sein, in dem es nur darum geht, Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln, dann werden wir uns im Alltag nur mit technischen Algorithmen beschäftigen. Wenn wir nicht zuhören, werden wir es nur schaffen, dass eine Kommastelle auf der Patientenrechnung sich verändert. Aber wenn wir in einem Metier sind, in dem es darum geht, Menschen zu heilen, werden wir sie behandeln und ihnen zuhören, und dann werden sie sich in unserer Gegenwart vielleicht sogar besser fühlen.«

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