Der Tölzer
Ich hielt die aktuelle Ausgabe der Tageszeitung Der Tölzer in der Hand, mit der ich (vergebens) Fliegen gejagt hatte, und die Bäckereiverkäuferin fragte: »Ist die von hier?« Ich bejahte, legte sie hin und sagte: »Wer würde denn freiwillig den Tölzer mitnehmen wollen?« Zeitungen seien schon wichtig, meinte sie, und ich, der Diplom-Journalist: »Zeitverschwendung.«
Im Ersten Weltkrieg wunderte sich schon der Romancier Robert Musil über seine Soldatenkollegen und ihre Hingabe an die Zeitungslektüre. Auch heute lesen eine Menge (älterer) Leute die Tageszeitung so intensiv, wie man früher die Bibel studierte. Wir hatten es ja beim Studium gelernt: Nachrichten sind Fakten zum Sich-danach-Richten; Zeitungslektüre schenkt Orientierung. Wieder einmal ist (gestern) in der Welt gerade so viel passiert, dass es genau in eine Zeitung passt, und die Welt dreht sich, es wird verhandelt, gelitten und gejubelt, es passiert was, also sind wir noch am Leben und nicken dazu.
Die Zeitung verkörpert ein Weltbild, in dem bisweilen der Gemeinderat tagt, Straßen ausgebessert werden, Firmen Jubiläen feiern und die Spielvereinigung Kochel gegen den 1. FC Ried nicht über ein Unentschieden hinauskam. Die Aktualität regiert, und aktuell ist, was man sehen und hören kann, und angeblich regiert die Objektivität; angeblich, weil es Einflussnahme von politischen Parteien und der Geschäftswelt gibt.
Der Journalist möchte gern einen dicken Skandal enthüllen, aber meistens ist er der, der getreten, schlecht bezahlt und auch manchmal gefeuert wird. Der Online-Journalismus hat nur dazu geführt, dass schlampiger recherchiert und schneller geschrieben wird. Man setzt heute auf diesen Journalismus, der fast in Echtzeit Meldungen absondert, dass der Konsument das Nachrichtenagentur-Feeling bekommt, das mich damals in Hamburg auch fasziniert hat.
Aber das ist natürlich Illusion wie überhaupt das Gefühl, man könnte über die Tageszeitung etwas über die Welt erfahren. Ich lese in einer Tageszeitung am liebsten die Meldungen, die bei den alten Mitbürgern Favoritenstatus genießen: die Todesanzeigen.