Nathan der Weise
Nun ist das Attentat auf Charlie Hebdo wieder eine Weile her, und man kann etwas dazu sagen. Giovanna erinnerte mich an die nötige Toleranz der Religionen voreinander und empfahl Die Kinder unseres Viertels von Nagib Machfus (1911-2006), das in der islamischen Welt Jahrzehnte vorboten war. Wikipedia, das sonst zu allem einen Artikel hat, hat nichts. Ein Beitrag wurde 2007 gelöscht und 2011 ein anderer. Schon seltsam.
Machfus hat 1959 diese Parabel über die Menschheitsgeschichte geschrieben, die er in ein Viertel seiner Stadt verlegt. Und als der kritische und deutliche Schriftsteller, der er war (1988 bekam er als erster arabischsprachiger Autor den Literatur-Nobelpreis), lässt er uns keine Hoffnung. Die Guten in dem Buch, die zu Toleranz aufrufen, werden allesamt umgebracht. Ich hatte es sogar gelesen und auf manipogo darüber geschrieben, vor einem Jahr! Da gibt es eine Kurzfassung, und jetzt erinnere ich mich auch an den Inhalt.
Giovanna meinte, das Buch solle Lektüre in allen Schulen werden. Dann erinnerte sich mich noch an Schiffbruch mit Tiger, einen Film nach dem Buch Life of Pi des kanadischen Schriftstellers Yann Martel. Ich hatte vergessen, dass der junge Inder Richard Parker, der Protagonist, am Anfang, als kleiner Junge, alles sein will: Moselm, Jude und Christ. Das geht natürlich nicht oder ist zumindest schwierig. Was aber spricht dagegen?
In unserer Kultur haben wir ja Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, ein Drama von 1779. Das hat Wikipedia in voller Länge. Das ist natürlich der kulturelle bias, der eingeschränkte westliche Blickpunkt. Man weiß alles über unwichtige Dinge, aber Informationen über den Islam hat man eben kaum. Schon nach diesen Pegida-Demonstrationen wollte ich etwas für den Islam schreiben, über die Sufis und Ibn Arabi, über Rumi und die gläubigen Asketinnen und Asketen im Orient …
Der Jude Nathan hat eine Tochter, die von einem christlichen Tempelritter gerettet wird, der wiederum sein Leben Sultan Saladin verdankt. Der Sultan fragt nun Nathan, welche der drei Religionen die wahre sei, und dieser antwortet mit einem Gleichnis: Ein Vater hatte drei Söhne, die er gleich liebte, und er hat nur einen Ring, der die Eigenschaft besitzt, den Träger vor Gott und den Menschen angenehm zu machen.
Der Vater lässt drei Kopien des Rings anfertigen und gibt jedem Sohne einen Ring. Dann stirbt er. Die Söhne finden heraus, dass jeder einen Ringe bekommen hat und ziehen vor Gericht. Welches der echte Ring ist, lässt sich nicht klären, aber die Söhne sollten sich Mühe geben, beliebt zu sein und menschenfreundlich, sagt ihnen der weie Richter – und der »Sieger« habe dann wohl den wahren Ring besessen. So soll jede Religion darum ringen, als sei sie die wahre, und doch … sind sie alle gut und wichtig.