Die Akte Hemingway
Hatte kürzlich etwas über Hemingways psychische Probleme gelesen, und vor einiger Zeit war ich interessiert gewesen an der jungen Adriana, sein Vorbild für die Renata in Über den Fluss und in die Wälder. Und dann steckte in einem Regal gebrauchter Bücher in Staufen der Band Wie es war von Mary Welch Hemingway.
500 Seiten, in zwei Tagen gelesen. Nun ist alles klarer, und alle scharfsinnigen Analysen von Psychologen und Literaturwissenschaftlern treten in den Hintergrund. Wir können ruhig annehmen, dass es so gewesen ist, denn die Autorin tritt uns als tatkräftige Frau mit gesundem Menschenverstand entgegen, die 1946, als sie Ernest Hemingway heiratete und ihm nach Kuba folgte, eine erfolgreiche Karriere als politische Journalistin und Kriegsberichterstatterin aufgab.
Auf keiner Zeile steht zu lesen, dass sie Reue darüber empfunden hätte. Das Leben an der Seite des Schriftstellers, der nach dem Zweiten Weltkrieg es zur Weltberühmtheit brachte, war aufregend und bunt. Die Finca Vigía auf Kuba und das Hochseefischen, Großwildjagd in Ostafrika, zum Stierkampf in Spanien, Ausflüge in seiner Heimatregion um Ketchum/Idaho, Reisen nach Paris, New York, Madrid …
»Papa«, wie Hemingway sich nennen ließ, hatte Geld und gab es leichthändig aus, es gab Feste und kaum zu zählende Trinkgelage, Picknicke, Autoausflüge. Die beiden hielten es kaum einmal einen Monat an einem Platz aus. Was für hektische Ortswechsel! Die hunderten Unternehmungen führten zu zahlreichen Unfällen mit Knochenbrüchen und Schlimmerem, und speziell Hemingway scheint zu Unfällen geneigt zu haben. Freilich hatten sie einfach Pech, als ihr Flugzeug am 22. Januar 1954 eine Notlandung vollführte und 4 Tage darauf die Maschine, mit der sie in Sicherheit fliegen wollten, beim Start in Flammen geriet.
Dem Buch lässt sich nicht entnehmen, dass Hemingway ein unerträglicher Macho gewesen sei. Er war von sich überzeugt, ließ sich gern umschwärmen und verliebte sich auch. Er war ein typisches Krebs-Zeichen, voller Gefühl. Ursprünglich dachte ich, Mary musste die Widmung für sie im Buch Über den Fluss und in die Wälder als Unverschämtheit empfunden haben, da es um eine fast kitschige Liebesgeschichte des 50-jährigen Obersten Cantwell mit der 18-jährigen Renata geht, aber so ernst war die Episode zwischen Ernest und der jungen Adriana Ivancich wohl nicht, und so war Mary bloß enttäuscht, dass ihr Mann sein »schwächstes Buch« ihr gewidmet hatte.
Hemingway konnte freilich auch ausfallend, ungerecht und gemein werden. Mary Welsh zeigte sich auch nach Szenen, die andere Frauen nicht hingenommen hätten, langmütig und verständnisbereit. Wenn sie aber spürte, dass sich das Klima zwischen den Eheleuten sehr verschlechterte, war sie bereit, zu gehen, aber Hemingway ließ das nie zu.
Es war eine große Liebe. Mary Welsh nimmt nie ein Blatt vor den Mund und schildert deutlich ihre Liebesfreuden, und sie waren (als Schreibende) daran gewöhnt, auch ausgedehnt schriftlich miteinander zu verkehren. Wenn sie sich geärgert hatte, packte sie ihre Vorwürfe in einen sieben- oder zehnseitigen Brief an ihn, den sie ihm auf dem Bett ließ, und wenn sie getrennt waren, schrieb Hemingway ihr lange Briefe von großer Zärtlichkeit. Sie schrieben sich andauernd lange Briefe, und so kam doch an, was direkt bei Aussprachen nicht gesagt werden konnte.
Er beschrieb sie als echten Mann, während er sich Augenblickseinfällen hingab und blödeln konnte wie ein Kind, und es schien so, als hätte sie den Haushalt und die Unternehmungen überwacht. Sie nannt ihn »Lamm«, er sie »Kätzchen«. 1954 bekam Hemingway den Nobelpreis – in dem Jahr ihres Flugzeugunglücks, bei dem, wie man vermuten muss, der Autor eine versteckte Gehirnverletzung erlitt.
Denn fünf Jahre später veränderte sich sein Wesen, wie Mary Welsh erkannte: Hemingway litt plötzlich unter Verfolgungswahn, fühlte keinen Antrieb mehr und hörte zu schreiben auf, und dann erschoss er sich heute vor 54 Jahren, was, wie Mary Welsh Hemingway (sie starb 1986) durchblicken lässt, irgendwie nicht zu verhindern war. Alles in allem war es ein großartiges, spektakuläres Leben, ein Leben als Löwe und Löwin, das Ernest und Mary 17 Jahre lang führten.