Geister in Lukanien
Im November wollen wir doch noch ein paar Geistergeschichten hören! Ich fand einige Sichtungen in einem Buch von Ernesto de Martino über die Totenklage in Lukanien. Der Autor macht deutlich, dass er die Geister für Halluzinationen hält, verursacht durch Müdigkeit. Wir sind anderer Meinung, ohne Beweise liefern zu können.
Ernesto de Martino (1905-1958) war ein Forscher aus Neapel, der unter anderem auch in Süditalien als Ethnologe tätig war und dort magische Gebräuche studierte. Lukanien ist eine bergige Region östlich von Neapel, so abgelegen, dass sie von der Zivilisation erst spät ergriffen wurde. Das Christentum fasste hier nie richtig Fuß, man lebte mit animistischen Vorstellungen.
Wie Carlo Levi in seinem Buch Christus kam nur bis Eboli schilderte, lebten die Lukanier noch um 1930 in Höhlen und in unvorstellbarer Armut. Dort pflegte man lange die alte ritualisierte Totenklage, die verhindern soll, dass die Trauernden in Erstarrung oder totale Raserei verfallen. Und dort hörte de Martino auch Gespenstergeschichten ähnlich denen aus der Zermatter Gegend.
Carminella Pugliese, 68 Jahre alt und »die Somnambule« genannt, konnte eines Abends im Jahr 1915 nicht schlafen. Sie hatte zwei kleine Kinder und war bitterarm. Sie ging aus, um Wasser vom Brunnen zu holen. Am Friedhof kam ihr, wie sie erzählte, eine weiß gekleidete Gestalt entgegen, die sie schweigend zur Quelle begleitete: ihre Mutter. Auf dem Rückweg schloss sich ihnen, ebenfalls in Weiß, Vincenzo Cervino an, der ihr übermittelte, sie solle seiner Frau die Nachricht seines Todes überbringen. An einer Kreuzung lösten sich die Gestalten auf. Carminella fand später den Eimer mit Wasser in ihrem Zimmer: Beweis dafür, dass sie nicht geträumt hatte. Drei Tage lang litt sie unter Fieber und Schüttelfrost.
Agnese Colobraro erzählte, ein Waldarbeiter sollte eines Nachts zu einem weit entfernten Brunnen gehen, als Mutprobe, um sich von seinem Boss drei Geldstücke zu verdienen. Jeden der drei Wege zum Brunnen fand er verstellt von je vier Gestalten, die eine Bahre trugen. Schließlich trat ein kürzlich verstorbener Priester auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte ihm: »Solche Wetten darfst du nicht eingehen. Hab keine Angst, ich begleite dich heim.«
Angela Conte, 50 Jahre alt, Bäuerin aus Roccanova, erzählte von einem Mann, der bei der Rückkehr von der Feldarbeit von einem Schwarm schwarzer Vögel angegriffen wurde, die ihn mit den Schnäbeln verletzten und ihn quälen wollten. Er verteidigte sich und rief: »Was wollt ihr denn von mir? Wollt ihr meine Seele? Dann holt sie euch halt!« Die Vögel verschwanden. Er war den Seelen der Toten begegnet.
Adelina Troncellito, 50 Jahre alt und Bäuerin aus Valsinni, behauptete, ein Priester, der den Gläubigen den Rücken zukehre, halte die Messe der Toten in der Kirche. Ein gewisser Fiore sah eines Morgens auf dem Weg zum Markt von Rotondella die Kirche weit offen, erleuchtet und voll von Menschen. Es waren aber nicht Menschen, sondern die Seelen der Toten. Eine jener Seelen bewegte sich auf ihn zu, berührte seinen Arm und sagte: »Was tust du hier? Das ist keine Messe für dich.« Fiore lief weg und war drei Tage lang krank.
Rosa Modarelli, eine 45-jährige Bäuerin, hat die Messe auch gesehen. Sie ging in der Nacht, um Wasser vom Brunnen zu holen, die Kirchentür war offen, und Rosa ging hinein und wohnte der Messe bei. Doch dann näherte sich ihr ein früherer Bewohner von San Giovanni und warnte sie: »Geh weg, das ist kein Platz für dich, wenn du nicht weggehst, musst du hierbleiben.« Rosa entfloh, und die Seele schloss die Kirchentür hinter ihr, wobei er ihr ein Stück des Rocks einklemmte, das abgerissen wurde. Rosa hatte drei Tage lang Frost und Fieber.
Diese Geschichten seien »typische Visionen«, erläutert Ernesto de Martino (in dem Buch Morto e pianto rituale nel mondo antico, Turin: Einaudi 1958), gespeist aus populären katholischen Vorstellungen mit eingestreuten heidnischen Elementen. Früher hatte man Angst, die Toten könnten zurückkommen. Man öffnete gleich nach dem Ableben die Fenster, damit die Seele entweichen könne, man schüttete das Wasser, von dem der Sterbende getrunken hatte, auf die Straße, und da der Tote drei Tage lang in sein Haus zurückkommt, legt man ihm ein Stück Brot und stellte ihm ein Glas Wasser hin.
Auch in der Nacht zum 2. November legt man den Toten Essen und Wasser auf die Fensterbretter, damit sie sich davon nähren können. Auch die Totenklage dient dazu, die verstorbene Seele zu besänftigen. Der Tod muss von den Hinterbliebenen verarbeitet, der Tote »internalisiert« werden in einer Art »zweitem kulturellen Tod«, damit das Leben der Überlebenden weitergehen kann.