Vom Verschwinden der DDR (3): Ausgelöscht

600 Seiten ist der erste Teil des Romans Rummelplatz von Werner Bräunig lang. Zu einem zweiten Teil kam es nicht. 1965 verdammten Walter Ulbricht und seine Mitläufer das Buch als unsozialistisch, und der Autor legte das Manuskript beiseite, schrieb weiter, verfiel dem Alkohol, starb zehn Jahre später, 42 Jahre alt. Schade.

Unliebsame Romane wurden in der DDR auf Eis gelegt, die Nestbeschmutzer und Defätisten zum Schweigen gebracht, Republikfeinde und R-Flüchtige ins Gefängnis geworfen. Sie wurden ausradiert, weggesperrt, ausgelöscht – was man sich eigentlich von allen Bürgern wünschte. Sie sollten im Sozialismus aufgehen, eins werden mit dem Staat, mit ihm verschmelzen und dadurch das höchste Glück erfahren. Das ist die Mystik der Ideologie, deren Monotheismus zu Sklaverei und Verblendung führt.

018Werner Bräunig aus Chemnitz beschreibt in seinem großartigen Roman nach dem ersten Viertel eine Auslöschung anderer Art: das Verschwinden des Ich. Christian Kleinschmidt passiert es, dem »Studierten«, der in der Wismut AG unter Tage Erz schürft. Wir müssen an den Flow denken, den Mihaly Csikszentmihalyi (geboren im selben Jahr wie Bräunig, 1934) erst 25 Jahre später populär gemacht hat.

Schönes Konzept, bin fasziniert davon, wiewohl ich einsehe, dass es Dinge gibt, die man wissen soll, ohne sie zu wissen, die man in sich bewahren muss. Manches erlebt man nicht, weil man um sie weiß, und wenn man sie erlebt, ist man unvorbereitet. Immer. Wie Christian Kleinschmidt. Bräunig schreibt:

Und es geschah etwas Seltsames.

Er arbeitet im Berg mit dem Presslufthammer, und »unablässig fraß sich die Stahlspitze tiefer, unablässig wich der Berg zurück«. Dann:

Nach und nach vergaß Christian alles um sich her.
Die Arbeit überkam ihn wie ein Rausch, plötzlich und ungeheuer. Er setzten den Meißel an und stemmte ihn mit aller Kraft in den Berg, der Druck der Preßluft schüttelte seinen Körper, der Rückschlag lief wie ein Schauder durchs leisch und spannte die Muskeln. Christian spürte den Rhythmus dieser Arbeit. Nun gab der Berg seine Geheimnisse preis.

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Und so kommt das Glück, wie es auch Csikszentmihalyi beschrieben hat. Irgendwie ist man beim Tao angekommen oder in der heiligen Stadt Zion, schon in dieser Welt, für eine köstliche Zeitspanne, die man auch gar nicht wahrnimmt, Teresa_von_Avila-Verzueckungdenn man vergisst sich ja, und dass das Vergessen des Ichs zum höchsten Glück führt, mag paradox erscheinen und gibt den Buddhisten recht, und wir denken auch an den Spruch der griechischen Antike: Werde, der du bist. Nur in seltenen, kostbaren Momenten erfahren wir dann, was das für ein Gefühl sein kann. Er war ein Anderer, heißt es unten. Im Verändern steckt das Andere drin.

Er ordnete sich einem Rhythmus ein, den er nicht erfunden hatte, der in ihm war, oder zwischen ihm und dem Berg und der Maschine. (…) Also arbeitete er. Und spürte den Berg nicht mehr, und die Dunkelheit nicht und nicht die Einsamkeit. Er war ein Anderer. Die Fremdheit war in sich selbst zurückgefallen für diese Nacht, er war eins mit sich und den Dingen ringsum, er war er.  

 

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