Der lange Winter
Es war Mitte März in St. Gallen, ich erinnere mich, und im Halbschlaf am Morgen hörte ich aufheulende Motoren, und irgendetwas war anders. In der Nacht war Schnee gefallen, der weggeräumt worden war und in kleinen Bergen am Straßenrand lag, und die Autos kamen vorsichtig aus den Parklücken und wühlten sich durch den Schnee. Die Sonne schien auf das Weiß, und das war schön, vor allem da es der letzte Gruß eines Winters war, wenige Tage vor Frühlingsanfang.
In dem Buch Der lange Winter von Giovanni Orelli schneit es am Anfang ausgiebig. Dort, in den Tessiner Bergen, schneit es lang und endlos, und wir haben das alle auch schon mal erlebt. Es fängt immer um vier Uhr am Nachmittag an.
Wenn der Wind fällt, ist die Luft wie luftleer. Aber das dauert nicht lange: die Leere füllt sich wieder dicht mit Luft und mit Schneeflocken, die in der nach Schnee duftenden Luft senkrecht und still herabkommen. (…) Der Schnee fällt auf anderen Schnee mit einem feinen Knistern. Nach einigen Tagen gibt es nur noch das Fallen von Schnee. Er ist so weich, dicht, kalt und trocken, dass man keinerlei Geräusch mehr hört. Die Schicht wächst ganz still …
Sie wird dann unwahrnehmbar immer höher, immer dichter zugedeckt, verschwinden die Merkmale der Pfade, die Grenzlinien, die Hecken auf den Matten, die Begrenzungen aus Stein oder Holz … die Feldkeuze, die ein Gebet an Gott richten: alles verschwindet.
Da muste ich an die wunderbaren letzten Zeilen der Kurzgeschichte The Dubliners von James Joyce denken:
Yes, the newspapers were right: snow was general all over Ireland. It was falling on every part of the dark central plain, on the treeless hills, falling softly upon the Bog of Allen and, farther westward, softly falling into the dark mutinous Shannon waves. It was falling, too, upon every part of the lonely churchyard on the hill where Michael Furey lay buried. It lay thickly drifted on the crooked crosses and headstones, on the spears of the little gate, on the barren thorns. His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead.
Bei Orelli – in seinem 1983 erschienenen kleinen Buch – fällt also Schnee. Der Erzähler mag Linda, mit der er sich auch im Heu tummelt, aber Linda geht in die Stadt. Im Dorf leben noch vier Dutzend Personen. Ein Pfarrer lädt zur Beichte. Kurze Beschreibung der Lage der Frau, was an Indien und den Orient erinnert:
Ich weiß nicht, was die alten Frauen werden zu beichten haben, sie sind mit achtzehn Jahren an einen Mann verheiratet worden, den sie in den allermeisten Fällen von sich aus nicht gewählt hätten; sie haben jedes Jahr ein Kind gebären müssen, bis sie hierzu nicht mehr imstande waren, und dann mussten sie diese Kinder in die Welt hinaus schicken und sich um sie Sorge machen, während sie selbst gezwungen waren, härter als ein Pferd zu arbeiten … Immer im Leben bekommen sie unrecht; anfangs sind sie unnütze Brotesser, und dann, wenn sie heiratsfähig sind, räubern sie den Vater mit der Mitgift sozusagen aus. … Das einzige, womit die Frauen wirklich Unrecht getan haben — so sagt Sara, wenn sie müde ist und es satt hat, sich allerlei anhören zu müssen —, ist, dass sie überhaupt geboren wurden.
Später im Buch geht in der Nähe eine Lawine nieder (im Original heißt das Buch L’anno della valanga, das Jahr der Lawine), das Dorf ist halb verschüttet, das Militär evakuiert es (ja, das Dorf, es wird leergemacht), und ein paar Wochen müssen alle in der Stadt leben. Da geht es flatterhaft zu zwischen Mann und Frau, aber das ist von Orelli etwas platt und negativ geschildert, der ansonsten ein diskreter Autor ist, der auf die Sprache achtet und nicht zuviel sagt.
Den Erzähler lässt er ins Dorf zurückkehren. Warum nicht? Ein junger Mensch muss jedoch nicht da weitermachen, wohinein er geboren ist. Er will ja Leben haben. Ein alter Mensch ist da oben in der Natur richtig. Ich denke oft an die Elternpaare, die früher in Indien, wenn sie über 60 waren und ihre Kinder erwachsen, sich in den Wald zurückzogen.
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Schnee in St. Gallen im März, Schnee, der unaufhaltsam fällt und alles einhüllt, das war das Thema. Wie ein Motiv in einem Film oder in einer Komposition, das immer wieder auftaucht. Wenn du ein Motiv im Leben anspielst, bekommst du Antwort. Diese Verbindungen unter der Oberfläche sind ungeheuerlich.
Ich hatte über den Beitrag mit dem Schnee nachgedacht, einen Tag hatte ich keine Lust dazu, verschob es, hatte immer die Geschichte vom Schnee in St. Gallen im Kopf, und dann schrieb ich es. Erst danach las ich die Mail eines Freundes, den ich zwei Tage zuvor gefragt hatte, ob er zufällig einen Arzt kenne in seinem Ort, vor 12 Jahren gestorben. Denn er war der Onkel eines jungen Mannes, den ich getroffen hatte. Der Freund antwortete: In der Tat, das war sein Hausarzt. Starb auf tragische Weise. Fuhr im Schneetreiben im Auto zu einer Patientin, hatte wohl bei der Rückfahrt einen Herzinfarkt; es war im März, es schneite, man erkannte keine Autos mehr und fand die Leiche erst drei Tage später.