Seide
Das schmale Buch Seide von Alessandro Baricco war ein Weltbestseller, liest man. In 32 Sprachen übersetzt. Ich bekam es zufällig in der Hand und las es in zwei Stunden. War auch bezaubert und will auf manipogo etwas dazu sagen. Das Buch ist symbolträchtig, aber gleichzeitig kommen einen Zweifel an, ob man etwas darüber sagen kann. Warum, das sage ich gleich.
Hervé Joncour handelt in Südfrankreich mit Seide, reist stets in den ersten Januartagen in den Fernen Osten und kehrt zum Osterfest mit seinen Einkäufen zurück. Irgendwann kann man auch die Raupen kaufen, nicht mehr nur Ballen Seide, und man zieht sie so im eigenen Land heran. Hervé ist überaus glücklich mit Hélène verheiratet. In Japan wird er an den Hof von Hara Kei gerufen, der dasitzt, und wie ein Tier liegt vor ihm ein Mädchen, in flammend rote Seide gekleidet, und der Herrscher krault ihr Haar. (Dieses Bild ist großartig und eines Joseph Conrad würdig.) Das Mädchen blickt auf und sieht Hervé an, sie erkennen sich, und der Franzose ist bezaubert.
Auf den nächsten Reisen entspinnt sich ein Spiel aus Ritualen, bei dem er zwar das Mädchen vor sich hat, das ihn anlächelt, doch kommt es zu keiner Berührung. Wenn er verschwenderisch berührt wird, weil man ihn wäscht, könnte sie es sein, doch man weiß es nicht. Bei einem Fest sehen sich die beiden über den Saal hinweg unverwandt an, dann wieder bringt sie ihn mit einem Mädchen in einem weißen Kimono zusammen und flieht mit einer orangen Laterne, ein kleines Licht in der Finsternis. Sie gibt ihm eine Notiz, die ihn bittet, zurückzukehren. Auch Hélène bittet ihn, zurückzukehren. Wohin gehört er, der immer von einer der beiden Welten in die andere zurückkehrt?
Am Ende spürt er sie noch einmal, hört sie, demütig geneigt, in Gebraus und Geklingel, und es ist das letzte Mal. Hervé Joncour verbringt schöne Zeiten mit Hélène, die bald stirbt, und dann baut er einen Garten und lebt noch 23 Jahre, und im Teich sieht er Gekräusel und denkt an das, was sein Leben war. Nun, vielleicht ist es eine Begegnung mit einer überirdischen Welt, in der Hara Kei stets von großer Stille umgeben ist und kaum gesprochen, nur angedeutet wird. Seide ist überall, »leichter als ein Nichts«. Auch Hervé spricht eigentlich wenig und zeigt sich der Situation würdig.
Doch man zweifelt auch, ob die Geschichte sich zu einer tiefgehenden Interpretation eignet. Sie ist nicht ganz durchgebildet und nicht ganz stimmig. Alessandro Baricco schreibt in der Nachfolge von Dino Buzzati und Antonio Tabucchi, ohne ihr Niveau zu erreichen. Das Mädchen hat keine orientalischen Augen; warum nicht? Joncour bekommt einen Brief auf Japanisch zugeschickt, sieben Seiten, die ihm übersetzt werden und sich als eine erotische Fantasie entpuppen, die an Pornografie grenzt und das Buch ins Seichte zieht. Hélène soll das geschrieben haben, erfährt man. Wieso?
Da gibt es keine Brücke, da schwant einem, dass sich ein Autor von den Geheimnissen überwältigen hat lassen und das Versprochene nicht ganz einlösen hat können. Die Geschichte muss einen treffen, sie muss perfekt sein, ohne Makel, dann ist man hingerissen. Wenn die Gleichung nicht aufgeht und Leerstellen bleiben, könnte es an uns liegen — oder eben am Autor, der vielleicht zu schnell zufrieden war und wie viele im letzten Drittel scheiterte, meine ich.