Ein Goldfisch
Ich weiß noch, wie man 2008 über Le Clézio herzog, über Jean-Marie Gustave Le Clézio, als er den Literatur-Nobelpreis bekam. Was, der? Seine Bücher verkaufen sich nicht, was will der überhaupt? Le Clézio gehörte eben nicht zum Literatur-Establishment, er war ein Außenseiter, der auch gern über Außenseiter schrieb wie 1997 über Laïla aus Marokko in Poisson d’Or (Fisch aus Gold auf Deutsch).
Aber dann hat man doch gern seine Bücher anlässlich des Preises wiederveröffentlicht, den Goldfisch 2008, und nun, Jahre später, fiel er mir in die Hände. Das ist nun nicht Bekenntnisliteratur, sondern ein harter Stoff über ein hartes Leben in den Städten in unserer Zeit, und es passt in eine Reihe mit Teresa, der Diebin, Shirin-Gol und Mary Crow Dog, mit Nomadland und Manchester by the Sea. Über letzteren Film von Kenneth Lonergan (2016) habe ich nur ein paar Sätze geschrieben, obschon ich ihn gesehen habe. Filme habe ich lange ignoriert. Warum?
Da kann man nur spekulieren. Kam mir der Film zu nahe? Vielleicht wollte ich mich ihm nicht (erneut) stellen. Auch beim Goldfisch merke ich, dass den Beitrag darüber vor mir herschob. Bücher kann man mal auf die lange Bank schieben. Sie liegen da und rufen nicht. Man kann später auch Stellen nachschlagen. Der Film indessen bricht über dich herein und wirft dich aus dem Gleichgewicht. Vor vier Jahren hatte ich nur als Nachsatz zu einem Buch (Septemberlicht) den Lonergan-Film erwähnt und routiniert und klischeehaft formuliert. Natürlich hatte der Film mit mir zu tun, mit meinem Selbstbild und meinen Schuldgefühlen, und anscheinend hielt ich ihn weg von mir.
Laïla erzählt selber ihre Geschichte. Sie kam irgendwo im Süden Marokkos zur Welt, und als sie sechs oder sieben Jahre alt war, steckten sie Männer in einen Sack und verschleppten sie in eine große Stadt (vermutlich eine Racheaktion), wo eine alte Frau, Lalla, sie aufnahm. Als diese stirbt, beginnt Laïlas Odyssee: zum Fondeco und den Prostituierten; zu Lallas Tochter und Schwiegersohn, der sich ihr lüstern nähert wie viele Männer, alte und junge, die die kleine Schwarze niedlich finden und mit einem Objekt verwechseln. Sie schafft Geld beiseite und fährt mit Schiff und Zug nach Paris, arbeitet als Haushälterin (diesmal: lüsterne Chefin), entdeckt die dumpfen Rhythmen der Nordafrikaner in der Metrostation Réaumur-Sébastopol, lebt mit anderen jahrelang in einem Kellerloch, geht zur Schule (ein lüsterner deutscher Dozent), lernt Klavier.
Es ist atemlos und gierig, die 15 geschilderten Jahre würden leicht drei Leben füllen, was passiert noch? Laïla lernt eine Sängerin kennen, die sie mitnimmt in die USA, die Green Card kriegt sie auch, aber: lüsterner Freund der Sängerin. Wieder muss Laïla weg, so wie sie aus dem Kellerloch fortmusste, nachdem alle anderen bereits fort waren; wie Fern weiß sie immer, wann es nicht mehr geht. Sie lernt einen Mann kennen, der eine Freundin hat, wird krank, flieht nach Kalifornien, schwebt in Lebensgefahr, fliegt zurück nach Nizza zu einem Festival, das sie als Pianistin einlud, und am Ende steht sie in der Straße, in der sie vermutlich verschleppt wurde; doch sie weiß, ihr Freund wird kommen, und sie werden ein Kind bekommen, und zum ersten Mal deutet sich für Laïla so etwas wie Zukunft an.
1997 erschien das Buch. Shirin-Gol und Laïla. Wie viele Menschen unterwegs! 70 Millionen sind weltweit auf der Flucht, und man will ja nur leben, überleben, verlangt man da zuviel?