Schoscha

Könnte ich Schoscha nur so ergreifend schildern, wie es Isaac Bashevis Singer getan hat! Doch eine grobe Skizze und ein paar Zitate schon werden zeigen, weshalb diese Frau im Umkreis von Weihnachten erscheint. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, hat Jesus Christus gesagt, geht ihr nicht ins Himmelreich ein. Schoscha ist mehr Kind als Frau und so liebenswert.

OIP.nN2oONANcp_iJr2_RCLwIAHaE8Den Roman hat Singer erst 1974 unter dem Titel Seelenreisen veröffentlicht; Schoscha ist der deutsche Titel. Das Buch spielt in Warschau, wo Aaron, der Erzähler, aufgewachsen ist, und reicht bis 1939/40, als alle den deutschen Einmarsch erwarten und den Vorstoß in die Hauptstadt. Aaron ist mit seiner Familie von der Krochmalna-Straße weggezogen und hat seine Jugendgespielin aus den Augen verloren. Nach 20 Jahren steht er wieder vor ihr. Sie lädt ihn für den nächsten Tag ein und sagt: »Bleib nicht wieder so lange fort.«

Der Journalist Aaron hat nie genug Geld, aber immer irgendwelche Frauengeschichten, auch mit Betty, der Freundin des reichen Amerikaners Sam Dreiman, für den er ein Theaterstück schreibt. Es ergibt sich die Gelegenheit, mit beiden nach Amerika zu gehen, weg von dem befürchteten Horror. Betty DSCN5474will ihn heiraten. Aber plötzlich weiß Aaron: Er kann Schoscha nicht im Stich lassen. Auch wenn es ihn das Leben kosten sollte. Es ist eine Entscheidung, die jeder Vernunft widerspricht, doch er kann nicht anders. (»Ich hatte die größte Dummheit meines Lebens begangen, aber ich bedauerte es nicht.«) So ist die Liebe, sie hat keine Rechtfertigung. Also heiratet Arele (wie sie ihn nennt) seine Schoschele (wie er sie nennt).

Betty und Celia und Dora lächeln mitleidig. Was findet er nur an Schoscha? Sie ist nicht größer als ein Mädchen, denn eine Krankheit hat ihr Wachstum gestoppt. Und geistig ist sie auch zurückgeblieben. Sie kann sich nicht viel merken, ist ungeheuer sensibel und naiv. Aaron sagt, sie sei die einzige Frau, zu derer Vertrauen haben könne. Und Schoscha vertraut ihm voll und ganz. Es ist für ihn, wie ein Kind zu haben. Du süßes Geschöpf! sagt er. Und welche wunderbaren Sätze sagt sie erst zu ihm!

Ich kann nicht heiraten ohne Liebe.
Vergiss nicht, dass dich niemand so liebt wie ich.
Wenn du bei mir bist, ist das besser als essen.
Arele, ich möchte dir etwas sagen, aber ich schäme mich. … Ich möchte wieder. … Ich möchte ins Bett, du weißt, was. 
Ich möchte tausend Jahre mit dir sein.
O Arele, es ist gut, bei dir zu liegen, auch wenn wir sterben müssen.
Ich möchte eine Mutter sein. Komm nach Hause. Ich möchte, dass du mit mir, du weißt schon was, tust.

Schoscha bekommt öfter Besuch ihrer verstorbenen Schwester Ippe. Und Arele erzählt sie von unheimlichen Gedanken und komischen Gesichtern, die sie sieht.

Sie machen Fratzen und sagen Sachen, die ich nicht verstehe. Es sind keine Menschen. Manchmal lachen sie. Und dann fangen sie an zu jammern wie bei einer Beerdigung. … Es sind viele. Manche sehen aus wie Soldaten. Sie reiten auch auf Pferden. Sie singen ein trauriges Lied, ein schweigendes Lied. Ich fürchte mich, … sie rufen mich, mit ihnen zu gehen.

OIP.u0u_xEgnH8gbc1Gj4NQzVwHaDNAlles ist dann vorbei. Dreizehn Jahre später. Warschau hat Hitler überstanden, Arele lebt in den USA und fährt nach Haifa, wo er Chaiml trifft. Sie blicken übers Meer. »Was ist denn mit Schoscha geschehen?« fragt Chaiml, der sie für fast eine Heilige hält, und, wahr, sie lässt mit ihrer Liebe an die heilige Therese vom Kinde Jesu denken. Aaron berichtet:

Sie ist genauso gestorben, wie ich es in einem Traum einige Jahre vorher geträumt habe. Wir gingen auf einem Weg, der nach Bialystok führte. Es war gegen Abend. Die anderen gingen schnell, und Schoscha konnte nicht mitkommen. Alle paar Minuten blieb sie stehen. Plötzlich setzte sie sich hin, und eine Minute später war sie tot. … Ich glaube, sie wollte einfach nicht mehr leben.

 

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