Rückkehr ins Leben (8): Die Bürgschaft
Noch eine Geschichte übers Davongekommensein, von Friedrich Schiller, der schon Teil 4 bestritt. Wie hatte ich Die Bürgschaft vergessen können? Vor 50 Jahren mussten wir so etwas in Teilen auswendig lernen und andere Gedichte auch. Ist das heute noch so? Ich fürchte nein. Auswendiglernen ist zwar hart, aber eine schöne Übung. Man lernt Rhythmus und wird stolz auf sich selbst.
Wie gesagt, wir Älteren kennen die ersten Strophen:
Zu Dionys dem Tyrannen schlich
Damon, den Dolch im Gewande,
ihn schlugen die Häscher in Bande.
»Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!«
entgegnet ihm finster der Wüterich.
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Da sollst du am Kreuze bereuen.«
»Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit,
und bitte nicht um mein Leben,
doch willst du Gnade mir geben,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
ich lasse den Freund dir als Bürgen;
ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.«
Ein anderer König hätte gesagt (und wir denken es uns): »Deine Schwester wird schon zu ihrem Gatten kommen, so wichtig ist die Sache nicht. Das ist nur eine Ausflucht. Fort mit dir!« Na ja, der Autor braucht eine Geschichte, und die Hochzeit ist eben der McGuffin Hitchcocks, der eine Geschichte lostritt wie eine Lawine. Der Freund hat Vertrauen und geht also ins Gefängnis.
Der Freigekommene vereint also die Gattin mit der Schwester: Dafür hat Schiller nur zwei Zeilen übrig, und es passiert schon in der fünften Strophe. Da liegen noch 15 Strophen (à 7 Versen) vor uns, denn Schiller, der Fuchs, will es möglichst spannend machen und uns leiden lassen bis zum Schluss, als schriebe er ein Drehbuch zu Polizeiruf 110. Regen stürzt herab, der reißende Fluss reißt die Brücke mit, und der Mann, schon auf dem Rückweg, verzweifelt fast und stürzt sich dann in die Fluten, »und ein Gott hat Erbarmen«. Räuber überfallen ihn, er erschlägt drei und vertreibt den vierten. Die Hitze lässt ihn fast verschmachten, doch plötzlich rauscht da ein kleiner Quell herbei, und wieder atmet der Zuschauer auf, der natürlich weiß, dass die Zeit knapp wird, denn der dritte Tag endet fast.
Und dann dehnt Schiller das Showdown (die letzten 10 Minuten im Polizeiruf) über 7 Strophen aus, ein Drittel des ganzen langen Gedichts. Der sich der Stadt Nähernde hört den Satz »Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen«, und die Angst »beflügelt den eilenden Fuß« — da kommt ihm sein Hausmeister entgegen und spricht die bedeutenden Worte: »Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr, so rette das eigene Leben. / Den Tod erleidet er eben.« Nun könnte er zusammenbrechen, doch was wissen schon die Leute? Glaub ihnen nichts, vielleicht ist es noch nicht zu spät! Er ruft aus: „»Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht / Ein Retter willkommen erscheinen, / So soll mich der Tod ihm vereinen.«
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet,
an dem Seile schon zieht man den Freund empor,
da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
»Mich, Henker!« ruft er, »erwürget,
da bin ich, für den er gebürget!«
Und der König sagt: Es ist euch gelungen,
ihr habt das Herz mir bezwungen,
und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;
so nehmet auch mich zum Genossen an,
ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der Dritte.«
Das kennen alle. Doch ein paar Nachgedanken müssen sein, 50 Jahre nach unseren Deutschstunden im Graf-Rasso-Gymnasium Fürstenfeldbruck hineingerufen in die Vergangenheit, auf dass eine alte Deutschlehrerin es noch höre …
Die Treue hat den Deutschen stets viel bedeutet. »Unsere Ehre heißt Treue«, war der Wahlspruch der SS (Schutzstaffel), — aber ist es Treue, Zivilisten in Dörfern reihenweise zu erschießen, weil ein Führer das befahl? Ist die Treue des Zurückkehrenden überhaupt zu loben? War sie nicht eine Selbstverständlichkeit, da er es ja versprochen hatte? Und warum hatte der König nicht Erbarmen , warum gab er der armen Geisel nicht noch einen Tag Frist? Könige sind oft grausam; will man so einen als Freund haben? Klar, den König wird man nicht abweisen, und keine Frist gab er, damit die Geschichte schön spannend werden konnte. Jedenfalls war so wieder einer davongekommen.
Illustrationen: zeitgenössische Litographien unbekannter Herkunft