Die Amazonen der Seine
Noch drei Tage Fasnacht mit heute! Verrückte Welt. Gestern hatten wir Afrika und nicht die Ukraine, und heute auch was Anderes. Den Beitrag für den heutigen Sonntag hatte ich schon am 5. Februar angefangen und am 12. nochmal überarbeitet. Gestern Abend rief mich ein alter Freund an und wollte über die Krise oder den Krieg östlich von Polen reden, darum können’s ein paar Zeilen dazu sein.
Ich gebe seine Meinung wieder: Es handle sich eher um »Theaterdonner«, Putin habe sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und konnte nicht mehr zurück als der russische Mann, der er ist, also entfesselte er einen kleinen Sturm, aber vielleicht zieht er seine Truppen am Faschingsdienstag zurück und verkauft sich dann als Friedensbringer. Und geht am Aschermittwoch in sich. Bei dieser Operation gab es leider Tote; das ist das Traurige und Idiotische daran.
Doch sollte man seine Empörung zügeln. Misstrauen ist angebracht. Mit einem Ohr hörte ich gestern, wie Zeugen behaupteten, russische Raketen würden auf Kinderheime abgefeuert. Da sollte man daran denken, dass 1980 behauptet wurde, irakische Soldaten hätten in Kuwait Säuglinge ermordet, was den Golfkrieg anheizte, aber gelogen war. 1989 wurde von einem Massaker bei Temešvar berichtet, das nie stattgefunden hatte. Also Vorsicht!
Nun würden, sagte der Freund, in Deutschland schnell Demonstrationen von 20.000 Leuten gegen den Krieg genehmigt. Wenn sich da nur niemand mit Corona ansteckt! Das scheint plötzlich egal zu sein. Vorher waren 500 Teilnehmer bei Demonstrationen und »Spaziergängen« zu viel, bei denen es gegen die Corona-Maßnahmen ging. Auch bei uns gibt es nämlich eine Staatsmacht, die alles so hindreht, wie es ihr gerade passt und dafür willfährige Sprachrohre findet. Alles ist wieder dramatisch, alles ernst, und sehr willkommen ist es der Medienwelt, dass sie gleich nach dem Corona-Virus wieder einen bösen Feind hat, auf den sie bequem und folgenlos einschlagen kann. Wiederum geilt sich der Journalismus auf.
Nun zu dem Stück von heute.
Es geht nochmal um den Roman Algarabía von Jorge Semprun (1923-2011), der vor 40 Jahren erschienen ist und in dem mir die Amazones de la Seine besonders gefallen haben. Semprun hat sich eine weibliche Motorradtruppe ausgedacht, die sogar bewaffnet ist. Die Handlung (Artigas‘ Schicksal kennen wir ja nun) spielt im Oktober 1975 in Paris, an einem einzigen Tag. Die Stadt ist total verwüstet und wird umkämpft; doch am linken Seine-Ufer ist die Z.U.P. entstanden, die utopische populäre Zone. Es ist eine anarchistische freie Kommune, die von einer Mauer umgeben ist. Schon ziemlich am Anfang prescht ein Motorrad heran.
Er erkennt sofort die über den Lenker gebeugte Silhouette. Es ist kein korsischer Pistolenheld. Es ist eine der Zwillingsschwestern, eine der jüngeren Töchter von Eleuterio Ruiz und Acracia Seisdedos. Proserpine oder Persephone? Die eine oder andere, gleichviel.
Eleuterio — angesehener Mann links der Seine — hat mit seiner Frau, die mit Vornamen eigentlich Demetria heißt, vier Töchter: Penthésilée, Penélope, Perséphone und Proserpina. Die letzten beiden sind Zwillinge. Da führt Semprun klassisches Bildungsgut ein. Die Zwillinge sind eigentlich eins: Persephone war die griechische Göttin der Unterwelt, weil deren Chef Hades sie zur Ehe zwang, und Proserpina hieß die Göttin später bei den Römern. Penelope war die Ehefrau von Odysseus, auf den sie geduldig 20 Jahre lang wartete. Und Penthesilea ist die legendäre Anführerin der Amazonen, die den Trojanern gegen die Griechen zu Hilfe kamen. Doch in der Schlacht wurde Penthesilea von Achille erschlagen, was dieser gleich danach bereute. (Das Bild: Filmplakat Stormquest — die Rache der Amazonen, Film von Alejandro Sessa, Argentinien, 1987)
Und nun wieder … die Magie der Namen!
Manche behaupten, Penthésilée sei durch die Zauberkraft ihres mythologischen Vornamens dazu gebracht worden, das Amazonenbataillon zu schaffen, dessen berühmte Teilnahme an den Kämpfen des Bürgerkriegs in Frankreich bekannt ist.
Doch der Erzähler demontiert/dementiert diese Behauptung gleich wieder: Die junge Frau habe als Propagandasekretärin ein Plakat vom Oktober 1870 entdeckt, einen Monat nach Ausrufung der französischen Republik, und darauf wurde gefordert die Aufstellung von »zehn Frauenbataillonen ohne Ansehung der sozialen Klassen, die den Titel ›Amazones de la Seine‹ annehmen sollten«. Da stand ganz präzise:
Das Kostüm der »Amazones de la Seine« wird aus einer orange gestreiften schwarzen Hose, einer schwarzen Wollbluse mit Kapuze und einem schwarzen Képi mit orangenen Litzen bestehen, nebst einer umgehängten Patronentasche.
Das wird wohl ein historischer Text sein, aber aus unbekannten Gründen kamen die Bataillone nicht zustande.
Jorge Semprun verbessert die Geschichte und erzählt uns, die Amazonen seien ursprünglich eine Reiterinnentruppe gewesen und hätten mit ihren Kalaschnikowas und M-16 den Gegnern schwere Verluste zugefügt; doch der Unterhalt der Pferde wurde zu teuer, weshalb die Amazonen ein motorisiertes Korps wurden. Da knattert die Schwadron also herbei durch die Straßen von Paris, dröhnend und in Schwarz-Orange, und aus den Abgasschwaden erheben sich Fetzen von Revolutionsgesängen. Demetria, die Gefährtin von Eleuterio Ruiz, führt die Kohorte an nebst ihrer Tochter. Und nach dem Absteigen begleiten die beiden Pedro Vargas — ein Kommandeur — mit zwei von dessen Männern zu Eleuterio, zu einem Kriegsrat.
Genialer Einfall, Amazonen auf Motorrädern. Frauen machen in Motorradklubs ja meist eine Minderheit aus. Doch dann fragte ich die Suchmaschine nach »Frauen-Motorradklubs« und stieß auf Dark Witches MC Germany (die »dunklen Hexen«) und die Netzwerke Hexenring.org, wow-germany-de und den Litas-Frauen-Motorradklub. Doch das kann vertiefen, wen’s mehr interessiert.