Auf der Suche nach Keshar Lal

Wie vor zwei Jahren griff ich mir aus Giovannas Bücherregal den Band mit Erzählungen des Inders Rabindranath Tagore (1861-1941) heraus und las eine davon, die ich in meinem Beitrag im Januar 2020 gar nicht erwähnt hatte. Eine gute Erzählung wie Falsche Hoffnung, 1898 erstmals veröffentlicht (ins Englische übersetzt dann 1917 und 1936), lässt einen nicht unberührt und löst viele Gedanken aus.

service-pnp-stereo-1s20000-1s26000-1s26700-1s26710rDarjeeling liegt unter Wolken, und es regnet. Der Erzähler trifft auf einem Felsen an der Calcutta Road eine weinende Frau in ockerfarbenem Kleid, die ihm ihr Leben erzählt. Gleich ist ihm klar, dass sie aus besseren Kreisen stammt: Sie ist die Tochter von Golamkader Khan, dem Nawab von Badraon. Sie war 16 Jahre alt und Muslimin, und der Armeekommandant ihres Vaters war Keshar Lal, ein Hindu-Brahmin. Die Brahmins genießen hohe Achtung und gelten fast als übermenschlich. Ihn, Keshar Lal, begann das junge Mädchen zu verehren. (Bild rechts: 103-jährige Frau in Darjeeling. Foto von Underwood & Underwood, 1903. Dank an Library of Congress, Wash. D. C.)

Dann brach ein Krieg aus. Der Vater der Frau, die der Erzähler als »Bibisaheb« anspricht, gab den District Commissioner Nachricht und verriet damit Keshar Lal, der geschlagen wurde. Die junge Frau fand ihn halbtot auf und brachte ihm Wasser. Sie sagte: »Ich bin Ihre demütige Dienerin, die Tochter von Golamkader Khan, dem Nawab.« Da gibt ihr Keshar Lal eine Ohrfeige und ruft aus: »Was, die Tochter des Erzverräters!« Er steht auf und entfernt sich mit einer Fähre.

0088_DDie junge Frau fing an zu wandern und sagt, sie habe andauernd gebrannt, ohne es zu spüren, aber nun, hier in Darjeeling, fühle sie sich ausgebrannt. Heute habe sie Keshar Lal wiedergesehen. Nach 38 Jahren! Doch sie erzählte weiter: Die Nachricht von Keshar Lals Tod glaubte sie nicht. Ein Brahmin könne nicht sterben. Sie beschloss, Brahminin zu werden, um ihm gleich zu sein. Dann heißt es: »Dreißig Jahre vergingen.« Drei Worte von Gewicht. Immerzu sah sie das Bild, wie sich Keshar Lal auf dem Schiff allmählich entfernt. Sie erzählte weiter:

Ich wurde eine Brahminin, innen und außen; in Gebräuchen und Benehmen; in Körper, Geist und Rede. … Ich wusste, dass das Schiff meines Lebens fast am Ufer, dass das Ziel meines Lebens nicht fern von mir war. 

War Keshar Lal in Bhutan oder in Nepal? Sie suchte ihn weiterhin. Nach 38 Jahren kam sie ihm nah. Sie gelangte wieder nach Darjeeling. Sie fand ihn. Ein gealterter Keshar Lal saß in einem Dorf in Bhutan, seine bhutanesische Frau neben sich und Enkelkinder in dem schmutzigen Hof um sie her. Sie überlegte:

Wie konnte ich die Beleidigung des Gurus als Einweihung verstehen? Der Brahmin wählte einen anderen Weg, und ich gab mein Leben und meine Jugend dahin — wofür?

Der Erzähler:

Bevor ich etwas sagen konnte, verschwand sie wie eine Wolke in den Nebeln, die um diese eisigen Bergspitzen schwebten. 

Dann wird der Himmel wieder klar. Die Sonne beleuchtete alles.

Ich konnte nicht länger an die Geschichte glauben, die ich gehört hatte. Meine Vorstellung hatte sie sich ausgemalt … Diese Muslim-Brahmin-Frau, jener Brahmin-Held hatten vielleicht keinerlei Wahrheit in sich.

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Ein Autor kann mit allen möglichen Tricks beteuern, dass seine Geschichte wahr ist — und er kann das Gegenteil tun: Sie in Frage stellen oder gar widerrufen, wie es Frederic Forsyth einmal getan hat. Die Extreme berühren sich, das hat schon Giordano Bruno behauptet und ist damit einem antiken Autor gefolgt, der mir gerade nicht einfallen will. Etwas hinterher zu entwerten, ist eigentlich sinnlos, denn man hat es ja hingelegt, es ist da, und man will seinen Augen trauen können.

Auch wenn es die Frau nicht gegeben hat, so gibt es ihre Geschichte, über die man nachdenken kann. Die Muslimin hat 38 Jahre zugebracht, um eine Brahminin zu werden, und dann fühlte sie sich (zum zweiten Mal) von Keshar Lal verraten. Wir können die Erzählung als eine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte lesen oder aber als den Weg einer Seele, die nun, gemessen am Weg ihres unbekannten Gurus, an dem ihren zweifelte. Wir denken an die Sufi-Anekdote des Mannes, der übermütig eine Prinzessin um ein Rendezvous bat, und sie sagte: »Morgen, auf dem Friedhof.«

Der Mann ging zum Friedhof, wartete auf sie, wartete jahrelang, begann zu beten und wurde zum Heiligen. Manche Menschen werden in unserem Leben zu Katalysatoren: Sie bewegen uns dazu, einen Weg zu gehen, und die Frau ist einen Weg gegangen, hat ihre Seele gebildet, und, wie heißt es im »Faust«? »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Ihr Leben war nicht vergebens, sie hat es richtig gemacht. Ihre Jugend wäre auch in einer Ehe vergangen, und so hat sie sich vorbereitet auf Nirwana.

 

 

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