Flugverkehr (141): In Sibirien, beflügelt
Sibirien? Interessiert mich. Ulla-Lena Lundberg (1947 geboren) war vor 30 Jahren mit einer Gruppe von Vogelbeobachtern dort und hat ein sympathisches Büchlein darüber geschrieben: Sibirien. Selbstportrait mit Flügeln. Gute Bücher veralten nicht; das tun nur Bücher, die aktuell sein wollen (und die der Journalismus auf der Stelle bespricht, weil im Journalismus der »jour« steckt, französisch: der Tag. Für den Tag geschrieben! Morgen ist es Altpapier).
In Sibirien steckt viel drin. Ein Motiv ist die Kollektivierung der indigenen Völker im äußersten Nordosten durch den Kommunismus. Nicht nur Aborigines und Indianer erlitten dieses Schicksal; die Staatsmacht hält die Ureinwohner stets für rückständig und zerbricht ihre Identität. Alle sollen sich der herrschenden Ideologie unterwerfen. Doch manipogo konzentriert sich hier auf die Vögel und die Schamanen, die ja auch fliegen können: mit dem Geist in andere Welten.
Dichter Nebel liegt über dem Wasser, der Himmel darüber aber ist klar. Im Dunkel schwimmen ein paar Enten vom Ufer weg, als wir näher kommen. Die Sonne geht auf, der Nebel dampft, die Welt beginnt blond und leuchtend zu werden. Unser Ufer liegt noch im Schatten, doch die Sonne erreicht eine Gruppe von Uferschnepfen, die sich gegen das rauchende Frühlicht abzeichnen. Eine nach der anderen ziehen sie den Kopf unter dem Gefieder hervor und richten sich auf, spannen versuchsweise die Flügel auf und balancieren ein wenig. Dann rücken sie im Wasser in einer Linie vor, und plötzlich fliegen sie im Schwarm auf. Als hätte man eine Handvoll Schriftzeichen über einen Bogen Reispapier geworfen, einen wohl komponierten Schriftzug, der seine Bedeutung mit sich nimmt.
Den nächsten Gesichtspunkt hatte ich lang vernachlässigt. Damit der Geist fliegen kann, darf der Körper nicht mehr gefühlt werden — oder man muss ihn bewusst schwächen. Am Abend eines langen Fahrradtages könnte es soweit sein.
Bei der Machtübernahme der Bolschewiki war der Schamanismus bei den Jakuten ebensotief verwurzelt wie bei fast allen anderen sibirischen Völkern. (…)
Je müder ich werde, um so mehr denke ich an die Schamanen. Um jenen Sinneszustand zu erreichen, den wir in Ermangelung einer besseren Bezeichnung Trance nennen, muss man sich bis zu einem Punkt äußerster Erschöpfung treiben. Nur so kann der Geist, die Seele, oder wie immer man es nennen will, von der gewaltigen Energie durchströmt werden, die es ihm ermöglicht, sich von seinem Sitz frei zu machen und ungebunden zu bewegen. So kann man in die obere oder auch in die untere Welt reisen und Kontakt mit den Geistern aufnehmen, die unser Leben in der mittleren Welt beeinflussen.
Vogelbeobachter sind auch so etwas wie Schamanen. Sie stehen früh auf und setzen sich vielen Härten aus, um einen Blick auf eine seltene Vogelart zu erhaschen — bewundernswert.
Auf dem Fluss ist alles ruhig, und in der Stille sprengt ein Gelbschnabel-Eistaucher die Oberfläche und gleitet vorbei. Der größte und distanzierteste aller Taucher. Er ist der Vogel, der meiner Vorstellung vom Geistervogel der Schamanen am nächsten kommt, und daher ein Symbol für das, was sich unter der Oberfläche regt, ein Spiegelbild der Tundra, die jetzt endlos weit vor uns über den Boden gebreitet ist.
Dann endet Frau Lundbergs Reise. Die letzten Wörter erklären dann auch den Untertitel.
Ich steige in den Helsingfors-Express … Man beruhigt sich, man legt sich schlafen, es gibt Zeit. Die Stadt verschwindet, ihre gesamte ausgezehrte Umgebung. Dann wird es finster und Morgen. Draußen liegt jetzt eine schöpferische Welt, die Sauerstoff und Nahrung produziert und eine artenreiche Vielfalt unterhält. Wir sind alle Bestandteile derselben Materie, und darum gibt es in allem, was wir sehen, etwas, das wir wiedererkennen. Wenn du durch das Fenster nach draußen blickst, siehst du durch dein undeutliches Spiegelbild hindurch auf all das, was du auch bist. Wir tragen eine lange Erfahrung in uns. Die meisten von uns haben noch eine Erinnerung daran, wie es ist, Flügel zu haben.