Flora Schade

Nun muss ich wieder über einen Verlust berichten, der mir ähnlich naheging wie der von Oswin Link, und ähnlich tragisch war es auch. Flora Schade ist vergangenen Samstag im Krankenhaus gestorben. Sie war meine Vertraute. Ich setzte mich immer zu ihr, wenn sie frühstückte, und erzählte ihr, was mich bewegte. Sie hörte zu und begriff alles. Sie nickte oder lächelte und sagte mal ein Wort; sie lieh mir ihr Ohr, denn manchmal braucht auch der Altenbetreuer Betreuung.  

SDC10581Eigentlich heißt dieser Job ja »Alltagsbegleiter«, aber ich begleite ja nicht den Alltag: Das ist sprachlich missraten. (Habe ich schon mal gesagt.) Ich betreue Alte. Flora, die ich natürlich »Frau Schade« nannte, saß also da, und nach dem Frühstück sagte sie oft: »Ich will auf mein Zimmer.« Dahin brachte ich sie, half ihr beim Hinlegen, deckte sie zu und sagte, wir würden sie zum Mittagessen wieder holen. Auch nach dem Abendessen führte ich sie hoch. Durch ihr Parkinson-Leiden zitterten ihre Beine, der erste Schritt fiel schwer, doch dann marschierte sie, die grazile Frau, um an der Schwelle zum Aufzug wieder wie angewurzelt stehenzubleiben. Schwellenangst. Sie spielte auch mit, wenn der Luftballon flog, ließ sich mit dem Stuhl in Position rücken und saß mit geschlossenen Augen, traf aber den Ball.

Flora wusste viel. Einmal erzählte sie mir eine Geschichte, die ich nie vergaß (und gewiss schon einmal erwähnt habe): Sie war mit dem Auto in die Badenweiler Thermen gefahren und unterwegs zum Eingang, als sie deutlich die Stimme ihres verstorbenen Mannes Heinz hörte, die sagte: »Man lässt Papiere und Geld nicht im Auto.« Sie machte also kehrt und holte die Wertgegenstände. Als sie später wieder zu ihrem Auto ging, war die Seitenscheibe eingeschlagen … Heinz hatte das wohl gewusst, etwas wissen die Verstorbenen von der Zukunft.

Flora Schade hatte ein kindliches Gesicht und war immer bescheiden und freundlich. Irgendwie sah ich sie nie als alte Frau, obwohl sie schon 93 war; am 1. September wäre sie 94 geworden, und sie wusste, Wassermann ist ein tolles Sternzeichen, und Jungfrauen (sie) und Wassermänner verstehen sich gut. Sie sagte auch so nette Sachen zu mir: »Schön, dass wir Sie haben. — Sie wären ein toller Ehemann und Vater gewesen.« Zuletzt hatte sie Mühe beim Gehen, und wie das so kommt, versuchte sie in ihrem Zimmer, zu ihrem Rollator zu gelangen, stürzte und brach sich den Oberschenkelhals. Man brachte sie ins Krankenhaus. Ich war dabei, als sie kamen.

Ich schaffte es erst vergangenen Freitag dorthin, um 11 Uhr, erfuhr aber, Besuchszeit sei von 14 bis 18 Uhr. Test mitbringen! Samstag früh testete ich mich im Heim und erzählte einer Kollegin von meinem Plan, Frau Schade zu besuchen. Zwei Stunden später hält sie mich auf dem Flur auf: Das mit dem Besuch habe sich erübrigt, Frau Schade sei in der Nacht gestorben. Eine Lungenentzündung war ihr zum Verhängnis geworden, die Operation war gut verlaufen. Also fuhr ich mit dem Rennrad nach Ottmarsheim und entzündete für sie in der Abtei eine Kerze. Gleich nach dem Tod muss man die Verstorbenen mit seinen Gebeten begleiten, da brauchen sie es. Aber jeder wird empfangen, jeder badet sich im Licht der Liebe, und Flora Schade war ein positiver Mensch, sie wird sich gut eingewöhnen. Sie weiß nun mehr. War schön mit dir, Flora! Du fehlst mir.

Die Tochter meinte, man könne die Kleider unter den Bewohnerinnen verteilen, und ich nahm heimlich ein T-Shirt mit halbem Arm mit, in einem giftigen Blau-Grün, und das trage ich gerade, und so ist Flora bei mir, wenn ich über sie schreibe. Als ich vorhin ins Bad ging, das kein Fenster besitzt, war mir, als sei da ein irgendwie überirdisches Licht. Seltsam. Als sie schon im Krankenhaus war, träumte ich zwei Mal von ihr, und beide Male hatte es mit Farbe zu tun. Beim ersten Mal war Flora bunt gekleidet; beim zweiten Mal wollte ich sie gelb anmalen, aber sie war blassorange. So habe ich mir das aufnotiert.

In meinem Portemonnaie fand ich schließlich das Gedicht Cruz de viento von Rafael Alberti (1903-1999), das ich ihr einmal vorgelesen hatte, weil darin zwei Mal flor vorkommt, die Blume. Im Original lautet es so:

DSCN4546Nevada, clara de nieve,
flor de los témpranos, tu,
sobre una corza marina.
Norte. Sur.

Dorada, clara de oro,
flora de los fuegos, tu,
sobre un cocodrillo verde.
Este. Oeste.

Windkreuz

Schneefall, Helle des Schnees,
Blume der Frühaufsteher, du,
auf einem Reh des Meeres.
Norden. Süden.

Vergoldung, Helle des Goldes,
Blume der Feuer, du,
auf einem grünen Krokodil.
Osten. Westen.

 

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