Adorno übers Fernsehen

»Fernsehen zählt zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen in Deutschland«, schrieb kürzlich statista. 1997 sah ein Bürger oder eine Bürgerin 183 Minuten am Tag (3 Stunden) fern, was im Jahr 2011 auf 225 Minuten anstieg, um im vergangenen Jahr (2022) auf 195 Minuten zu fallen. Dieser Rückgang sei ein Trend. Dennoch: Die Sender haben starken Einfluss. Kritik gibt es kaum.

Das war 1966 anders, als der kulturkritische Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903-1969) sich übers Fernsehen Gedanken machte. Was er schrieb, gilt heute noch, fast 60 Jahre später; doch man nimmt es hin und bucht es ab. Auch Pier Paolo Pasolini hatte in den 1960-er Jahren das Fernsehen als »unmoralisch« kritisiert. Freuen wir uns, dass es Geister gab, die das einer Prüfung unterziehen, was als Selbstverständlichkeit zum Leben des Bürgers gehört wie Mittagessen und Autofahren. Die Jüngeren haben heute Youtube, Netflix und Streaming, das Fernsehen ist ihnen zu altbacken und geregelt. Das gibt Hoffnung.

CIMG0548Prolog zum Fernsehen heißt ein Essay in dem Adorno-Band Eingriffe. Der Autor griff regelmäßig die öffentlich-rechtlichen medialen Instanzen an, die er als »Kulturindustrie« brandmarkte. Bei ihnen nahm er wahr, dass sie die Öffentlichkeit beeinflussen und sie vor allem ruhigstellen wollen. Adorno muss man aufmerksam lesen, was heute Probleme bereitet. (Links: Bewohnerin im Pflegeheim mit Fernseher.)

 

Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag zugleich ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man der realen für zuträglich hält.

Die Gesamttendenz in der Gesellschaft gehe dahin,

in ihren Bewusstseinsformen nicht länger über sich selber, den status quo hinauszugehen, sondern diesen unablässig zu bekräftigen und, wo er etwa bedroht dünkt, wiederherzustellen.

IMG_1868Das Fernsehen zeigt das, was ist, und mehr gibt es anscheinend nicht. Das ist auch Ideologie, denn wie die Zeitungen ist auch das Fernsehen Sprachrohr des Konsumkapitalismus und einverstanden mit Wirtschaft und Politik. Die Medien sind längst keine »vierte Instanz« mehr (neben Legislative, Jurisdiktion und Judikative — also Gesetzgebung, Rechtsprechung und Durchsetzung des Rechts), sondern reine Verstärker herrschender Impulse, wie in den drei Corona-Jahren deutlich zu sehen war.

Damals, 1966, sprach man von Entfremdung und der Verdinglichung. Das alles hat sich fortgesetzt, nun aber verschleiert durch Twitter und Direktbuchung von Hotels online. Man meint, näher dran zu sein, doch alles ist abstrakt geworden. Noch ein schönes Zitat Adornos:

Jene fatale »Nähe« des Fernsehens, Ursache auch der angeblich gemeinschaftsbildenden Wirkung des Apparats, um die Familienangehörige und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüssten, stumpfsinnig sich versammeln, befriedigt nicht nur eine Begierde, vor der nichts Geistiges bestehen darf, wenn es sich nicht in Besitz verwandelt, sondern vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und Dingen. Sie wird zum Ersatz einer gesellschaftlichen Unmittelbarkeit, die den Menschen versagt ist. Sie verwechseln das ganz und gar Vermittelte, illusionär Geplante mit der Verbundenheit, nach der sie darben.

SDC11108Nun ist der Fernsehmonitor heute, 2023, nur noch ein Monitor von vielen. Nach neueren Statistiken wird das Internet im Durchschnitt 83 Minuten am Tag genutzt. 62 der 83 Millionen Deutschen besitzen ein Smartphone. Wie viele Minuten sie es nutzen, verrät keine Statistik. Über den Tag verteilt, wird es schon eine Stunde sein. Der Deutsche und die Deutsche blickt also in den wachen Stunden hauptsächlich auf ein Display — wie viel Zeit bleibt da für einen Blick aus dem Fenster und für Gespräche? Da kann man durchaus von Entfremdung sprechen, und geben wir Theodor W. Adorno das Schlusswort:

Der Schwachsinn des Ganzen setzt sich aus lauter gesundem Menschenverstand zusammen.

 

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