Krieg und Frieden
Im April schaute ich mir die 6 Stunden Krieg und Frieden an, die nach dem Roman von Leo Tolstoj Regisseur Sergej Bondartschuk in 6 Jahren mit 12.000 Komparsen (und Hunderten Pferden) gedreht hat. 1966 kam der Film in die Kinos; auf Youtube sind es 4 Filme mit englischen Untertiteln, und sie sind überwältigend! Es geht natürlich auch um den Tod und das Leben.
In jedem Film war mindestens eine Szene, in der es gedanklich in die Tiefe geht, und wie oft geht es um die Rätsel unserer Existenz. Bondartschuk (1920-1994; im Bild rechts) hat den Roman Tolstojs, der in 4 Teilen von 1863 bis 1869 erschien, ziemlich originalgetreu verfilmt. Im ersten Film steht Fürst Andrej Bolkonski im Vordergrund, der mitten in der Schlacht gerade eine Fahne aufpflanzen will, aber niedersinkt, da verwundet. Nun liegt er auf dem Rücken und schaut zum Himmel und denkt:
Wie still und ruhig! Wie friedlich. Ganz anders als all dies Laufen und Reiten und Schießen. Wie kann es sein, dass ich diesen erhabenen Himmel bisher nie bemerkt habe? Wie glücklich ich bin, dass ich ihn nun endlich sehe! Ja! Alles ist Eitelkeit, alles ist falsch außer diesem endlosen Himmel. Es gibt nicht, nichts außer ihm. Und nicht einmal er existiert. Nichts. Nur Ruhe und Frieden. Gott sei Dank dafür.
Dann nähert sich Kaiser Napoleon und ruft aus: »Was für ein schöner Toter!« Und die Chöre singen, die Kamera geht höher und zeigt die Kampfhandlungen von oben, im Blick Gottes — Soldaten marschieren im Kreis, Schrapnelle explodieren, dann kommt eine Wolke und schiebt sich davor und Finale erster Teil, in dem zwischendrin Tuchin (so ähnlich hieß er), der eine Batterie mit Kanonen befehligt, laut nachdachte, wohin wir gehen; und wie leicht es wäre zu sterben, wenn wir wüssten, dass wir in einer anderen Welt landeten.
In Teil 3, der Natascha Rostowa gewidmet ist, drückt sie vor Freunden ihre Gedanken aus — ob wir wohl weiterleben, denn es gebe Leute, die sich erinnern könnten, und wie oft das schon gewesen sei?
Und im letzten Teil wird Pierre Besuchow im leeren, brennenden Moskau von französischen Soldaten aufgegriffen und soll hingerichtet werden. Fünf Männer sieht er sterben, doch dann sagt der Leiter des Exekutionskommandos: »Den Dicken da nicht!« Vorher hatte Pierre (gespielt vom Regisseur selbst, der perfekt dafür ist) den Tod vor sich gesehen und geklagt:
Wer tut das mit mir? Mit all meinen Gedanken und meinem Leben muss ich fortgehen! Wer tut mir sowas an?
Pierre kommt davon, und als er auf einem Marsch durch Schlamm, unter französischer Bewachung, zusehen muss, wie ein Bekannter erschossen wird, denkt er wie Andrej: Warum hab ich das nicht gewusst?
Was ist das Leben? Was war er, Karataew — er blühte auf und verschwand. Das ist so einfach und so klar. Warum habe ich das bisher nicht gewusst? Das Leben ist alles. (Жѝзн эсть всё.)
Und später fängt er zu lachen an und kann nicht mehr aufhören. Er kam davon. Ja, das nackte Leben … wir hängen daran, wir klammern uns daran. Das Leben ist alles, ja, aber hinterher leben wir dennoch weiter, niemand nimmt uns unser »Sein« weg. Nur der Körper verändert sich, und mit dem waren wir auch nicht immer zufrieden.
∅
Jetzt möchte ich noch lange von dem Film (den Filmen) schwärmen und muss mich zügeln. Nur ein paar Szenen sollen herausgegriffen werden. Der berühmte erste Ball für die junge Natascha! Tolstojs Schilderung fand ich damals, als ich den Roman las, genial: Einen derart komplexen Abend literarisch darzustellen, dazu braucht es einen Meister. Bondartschuk schafft das auch. Da nähern sich die Paare übers Parkett — und er lässt die Kamera einen ruhigen dunklen Seitengang entlangfahren, so dass man die Tänzer nur immer kurz erspäht, und dann biegt die Kamera ums Eck, kommt von vorn, nimmt sie frontal und erhebt sich, geht hoch und immer höher hinauf. Der Regisseur mochte das, die Perspektive von oben.
Überhaupt hat Bondartschuk mit der Kameraführung viel experimentiert und alle möglichen Tricks eingebaut. Da dachte ich mir: Wie einfallslos heute die Kamera benutzt wird! Eigentlich wird nur heruntergekurbelt, und man nutzt nicht die phänomenalen Möglichkeiten, man probiert nichts aus wie etwa Bondartschuk, als er Fürst Andrejs Todeskampf zeigt. — Ach, und die Schlachtenszenen: Man glaubt nicht, dass so etwas möglich ist: so nahe ranzukommen, dass die Zuschauer sich wie mitten in der Schlacht fühlen, und dann wieder Nahaufnahmen und auch surreale Bilder … glanzvoll. Und Pierre Besuchow, der im Anzug und mit weißem Zylinder auf dem Kopf wie ein Außerirdischer der Schlacht beiwohnt, auch er mittendrin, das ist verrückt.
Am Ende steht Pierre da und erfährt, dass Fürst Andrej gestorben ist — und sieht in der Ecke des Zimmers Natascha sitzen wie ein verlorenes Waisenkind. Er geht entschlossen auf sie zu und erinnert sich, wie er einmal zu ihr gesagt hatte:
Wenn ich nur nicht der wäre, der ich bin, sondern der schönste, klügste, beste Mann auf der Welt, und wenn ich noch dazu frei wäre, ich würde auf den Knien um Ihre Hand und Ihre Liebe bitten!
Natascha blickt ihn mit großen Augen an, erwartungsvoll und zustimmend. Da kann man die Tränen kaum zurückhalten, so schön ist das. — Doch der Regisseur wartet die Umarmung der beiden nicht ab, die Kamera fährt zu Chorgesang hoch und dann hinunter in Wälder, und Pierre kommt wieder zu Wort:
Ich sage euch: Geht Hand in Hand, ihr alle, die ihr das Gute wollt. Lasst nur ein Banner sein: die aktive Güte. Ich möchte nur eins sagen: Alle Gedanken, die sofortige Folgen haben, sind einfach. Mein Gedanke ist, dass wenn böse Menschen einander verbunden und dadurch stark sind, dann müssen ehrliche Menschen es auch so halten. So einfach ist das.
Wolken ziehen auf, und: конец, фильма. Ende des Films.