Zum Leuchtturm

Auf Santorini hatte ich den Roman To the Lighthouse von Virginia Woolf (1882-1941) dabei und las ihn am Strand unter dem Sonnenschirm, kongenial. Die Autorin selbst war mit ihrem Werk sehr zufrieden, und wenn man das Buch liest, freut man sich über die Eleganz und Brillanz ihrer Sprache; und was sie nicht alles sieht und empfindet! Ein paar Zitate aus diesem zauberhaften Buch.

Mrs Ramsey denkt nach, und das ist geschrieben im Stream of consciousness, mit dem vermutlich James Joyce begonnen hat, von dem wir morgen hören werden. Joyce verfasste den Ulysses, der 1922 erschien, und Finnegans Wake (sein letztes Buch) als Collagen aus Geschehnissen und Gedanken und zeichnete auf, was einer Person gerade durch den Kopf ging. Chaotisch kam das den Lesern vor. Virginia Woolf macht das geordneter, und nun ein erstes Zitat:

All das würde im Leben von Paul und Minta wiederbelebt werden; »die Raylays« — sie probierte den neuen Namen aus; und sie spürte, mit ihrer Hand an der Kinderzimmertür, jene gefühlsmäßige Gemeinschaft mit anderen Menschen, die einem die Emotionen schenken, als ob die Trennwände so dünn geworden wären, dass praktisch (es war ein Gefühl von Erleichterung und Glück) alles ein einziger Strom war, und Stühle, Tische, Landkarten gehörten ihr, gehörten ihnen, und es spielte keine Rolle wem, und Paul und Minta würden alles weiterführen, wenn sie tot war.

Das dachte Mrs Ramsey, diese schöne, wunderbare, von allen geliebte Frau und Mutter von acht Kindern. Dann beginnt ein neues Kapitel, das kurz ist und mit Die Zeit vergeht betitelt ist.

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Im dritten Kapitel (Der Leuchtturm) denkt nur noch Lily Briscoe, die Malerin, wie hier:

Also sagte sie nichts und blickte gedrückt und traurig auf die Küste, gehüllt in den Mantel des Friedens; als ob die Leute dort eingeschlafen wären, dachte sie; sie waren frei wie Rauch und waren frei, zu kommen und zu gehen wie Geister. Sie kennen kein Leiden dort drüben, dachte sie.

Aber die Toten, dachte Lily, während sie ein Hemmnis im Plan für ihr Gemälde entdeckte, das sie zu einer Pause und zum Nachdenken zwang, wofür sie etwas von der Leinwand zurücktrat. Oh, die Toten! murmelte sie, man bedauerte sie, man wischte sie beiseite, man hatte sogar etwas wie Verachtung für sie. Sie waren uns ausgeliefert. Mrs Ramsay ist verblasst und fort, dachte sie. Wir können ihre Wünsche übergehen und ihre begrenzten. altmodischen Ideen verbessern und verwässern. Sie zieht sich weiter und weiter von uns zurück.

»Mrs Ramsay! Mrs Ramsay!« rief sie und spürte, wie der alte Horror zurückkam — etwas dringend zu wollen und es nicht zu kriegen. Konnte sie das immer noch bewirken? Und dann wurde das unmerklich, als ob sie sich wiederholte, ebenfalls Teil ihrer gewöhnlichen Erfahrung und stand in einer Linie mit dem Stuhl, mit dem Tisch. Mrs Ramsay — es gehörte zu ihrer perfekten Güte Lily gegenüber – saß ganz einfach da, auf dem Stuhl, ließ ihre Stricknadeln hin und herfliegen, fertigte ihren rötlichbraunen Strumpf an, warf ihren Schatten auf den Boden. Da saß sie.

Diese Stelle hatte ich gesucht, wegen ihr hatte ich den Roman mitgenommen. Die ferne, angeblich tote Mrs Ramsay sitzt ganz irdisch auf einem Stuhl, ist das denn zu fassen?

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Und dann noch eine überirdisch schöne Stelle:

So schön war der Morgen — bis auf ein paar Windstöße hier und da —, dass das Meer und der Himmel wie aus einem Gewebe gemacht schienen, als ob die Segel hoch oben am Himmel hingen oder die Wolken hinabgesunken wären ins Meer. Ein Dampfer weit draußen hatte eine starke Rauchsäule ausgestoßen, die in der Luft hängenblieb und dort dekorative Kurven und Kreise beschrieb, als wäre die Luft ein feines Gespinst, die die Dinge bei sich und in ihren Maschen behielt, sie nur hierhin oder dorthin schaukeln lassend. Und wie es manchmal geschieht, wenn das Wetter besonders schön ist, so sahen die Klippen aus, als ob sie sich der Schiffe bewusst wären, und die Schiffe sahen aus, als ob sie sich der Klippen bewusst wären, als signalisierten sie einander eine Geheimbotschaft, die nur sie kannten. Der Leuchtturm, der manchmal der Küste nah zu sein schien, wirkte an diesem Morgen im Dunst, als läge er enorm weit entfernt.

Zu diesem Leuchtturm fahren Mr Ramsay, der Witwer, mit seiner Tochter Cam und dem Sohn James. Sie erreichen den Turm. Einige Hinweise der Autorin deuten an, dass sie nicht lebend zurückkehren werden, doch das wissen wir nicht, da das Buch endet.

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DSCN1009Bei Antonio Tabucchi (Requiem) unterhält sich der Erzähler mit der Frau des Leuchtturmwärters und gesteht ihr etwas:

Wissen Sie, was ich früher mit dem Leuchtturm machte? sagte ich, hören Sie, ich erzähle es Ihnen jetzt, ich machte ein Spiel, hin und wieder, wenn ich nicht schlafen konnte, ging ich in dieses Zimmer und setzte mich ans Fenster, der Leuchtturm hat drei Scheinwerfer, die abwechselnd blinken, einen weißen, einen grünen und einen roten, ich spielte mit den Scheinwerfern, ich hatte ein Lichtalphabet erfunden und unterhielt mich mit Hilfe des Leuchtturms. Und mit wem unterhielten Sie sich,  fragte die Frau des Leuchtturmwärters. Nun, sagte ich, ich unterhielt mich mit Gespenstern. Großer Gott! rief die Frau des Leuchtturmwärters aus, der Herr hat den Mut, sich mit Gespenstern zu unterhalten? Ich hätte es niemals tun dürfen, sagte ich, ich würde niemandem raten, sich mit Gespenstern zu unterhalten, das ist etwas, was man nicht tun soll, aber hin und wieder geht es nicht anders, ich kann es Ihnen nicht erklären, das ist einer der Gründe, warum ich es tue.

Als ich das las, fiel mir plötzlich ein, dass ich nichts darüber gesagt hatte, was der Leuchtturm in Virginia Woolfs Roman bedeutet. Einer der Gründe dafür ist, dass ich es nicht weiß. Zu Beginn soll es einen Ausflug zum Turm geben, doch das Wetter ist unbeständig, Mr Ramsey winkt ab, Mrs Ramsey hofft, doch erst Jahre später und am Ende des Romans wird der Turm erreicht, als sei er ein sehnsüchtig erwünschtes Ziel gewesen, das Mrs Ramsey gar nicht und ihr Mann nur einmal erreichen wird.

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Lindau-InselBaluginoSymbol: der Turm

 

 

 

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