Die Mutter auf dem blauen Fahrrad

Der Roman Die Farbe von Wasser (1996) von James McBride lag vor meiner Tür, ich sollte ihn in ein Second-Hand-Real stellen, also wegbringen; doch dann sah ich, dass das zweite Kapitel Das Fahrrad hieß, las los und war begeistert. Ein November-Fahrrad-Beitrag! Und wieder ein blaues Fahrrad wie bei manipogo im April 2017, als ein Mädchen auf einem solchen saß. Freuen wir uns also auf einen schönen Auszug aus dem Roman, in dem der Autor das Leben seiner Mutter schildert. 

James_mcbride_2013James McBride ist exakt fünf Monate jünger als ich und wuchs in Brooklyn auf. Das Buch Die Farbe von Wasser verkaute sich millionenmal, wurde in 16 Sprachen übersetzt und stand zwei Jahre auf der US-Bestsellerliste. Auch seine anderen (6) Romane waren erfolgreich, und sein jüngstes (8.) Buch heißt The Heaven & Earth Grocery Store, wie ich seiner Hompage entnahm. McBride studierte Musik am Oberlin Conservatory in Ohio und tourte in Bands als Saxophonist, und einige Songs schrieb er auch. 2015 wurde er von Präsident Obama mit einer Medaille dafür ausgezeichnet, das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß in den USA verbessert zu haben.

Also nun die wichtigsten Sätze aus dem zweiten Kapitel des zweiten Romans von James McBride (übersetzt von Monika Schmalz):

Und dann, nach einem Tag Schuleschwänzen, Kiffen, Rasiermesserschwenken und U-Bahnfahren, kam ich nachnittags nachhause und erblickte meine Mutter auf ihrem blauen Fahrrad.
Sie fuhr immer in Zeitlupe unsere Straße entlang, die Murdoch Avenue in St. Albans, im Bezirk Queens, die einzige Weiße weit und breit, während die Autos einen großen Bogen um sie machten und schwarze Mopedfahrer diese merkwürdige weiße Frau mittleren Alters auf ihrem uralten Fahrrad begafften. … Mit 51 war sie noch immer schlank und hübsch, mit schwarzen Locken, dunklen Augen, einer geraden Nase, einem strahlenden Lächeln und einem o-beinigen Gang, den man schon von weitem erkannte. 
(…)
Sie weigerte sich, Autofahren zu lernen. Daddys altes Auto stand wochenlang draußen am Straßenrad geparkt. Lautlos. Sauber. Glänzend. Jeden Tag fuhr sie mit dem Fahrrad daran vorbei und tat einfach, als sähe sie es nicht.

011-12Ihr Anblick auf diesem Fahrrad fasste für mich ihre ganze Existenz zusammen. Ihre Andersartigkeit, ihr komplett fehlendes Bewusstsein dafür, was die Leute von ihr dachten, ihre Gelassenheit angesichts der, wie ich fand, ständigen Bedrohung sowohl durch Schwarze als auch durch Weiße, denen es nicht passte, dass sie als Weiße unter Schwarzen lebte. Sie sah nichts davon. Sie fuhr so langsam, dass es von weitem so aussah, als bewegte sie sich gar nicht, das Bile erstarrte, zeichnete sich gegen den Frühlingshimmel ab, eine weiße Frau auf einem Fahrrad (…)

Sie trug ein geblümtes Kleid und schwarze Halbschuhe, ihr Kopf schlackerte hin und her, während sie wacklig um die Ecke bog, an der ich mit meinen Freunden Baseball spielte, die Lewiston Avenue rauf, die Maryville Street begrab, … die Murdoch Street wieder bergauf, über die Schwelle unserer Einfahrt und bis vor unser Haus. »Puh!« sagte sie dann immer, während meine Geschwister, die draußen auf den Stufen saßen, um ein Auge auf sie zu haben, den Kopf schüttelten.

Die Mutter auf dem Rad vor aller Augen, das fanden sie peinlich. Doch für die Frau war das Fahrrad immer ein Emanzipationsinstrument. Sie konnte damit schneller zum Einkaufen und überhaupt, sie kam etwas herum. Auf den Dörfern hier und in anderen Ländern gibt’s immer Frauen, die im Alltag mit dem Rad fahren. Die Männer fahren Rennrad, auch in vorgerückte Alter, doch für den Einkauf ziehen sie ihre Riesen-Limousine vor. Mit dem Rad zum Supermarkt, das ist unter ihrer Würde.

Dazu passen folgende Artikel:

Das Mädchen auf dem blauen Fahrrad —  Das grüne Fahrrad… nun fahren sie auch noch Veloziped! Ein Fahrrad erleichtert vieles.

 

 

 

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.