Absurdes Theater

Im Artikel über den neuen Literatur-Nobelpreisträger Jon Fosse aus Norwegen war ein Beitrag über Beckett und Ionesco, also über das »Theater des Absurden« angekündigt worden, der nun verspätet eintrifft. Vor mir liegt seit Wochen ein dickes Buch darüber, von Martin Esslin: Das hat mich anscheinend abgeschreckt. Aber nun hinein!

Das Buch kam schon 1961 heraus und gilt als Klassiker. Behandelt werde die wichtigsten Autoren des Absurden, das damals angesagt war. Das bekannteste Stück dieses Genres ist wohl Warten auf Godot von Samuel Beckett. Der Autor, Martin Esslin, wurde 1918 in Budapest geboren und starb 2002 in London, wurde also 103 Jahre alt. Er erzählte:

028Am 19. November 1957 wartete eine Gruppe aufgeregter Schauspieler auf ihren Auftritt. Die Schauspieler waren Mitglieder des Ensembles »Actors‘ Workshop« in San Francisco; ihr Publikum bestand aus vierzehnhundert Insassen des Zuchthauses von San Quentin. Seit dem Gastspiel Sarah Bernhardts im Jahre 1913 hatte es in San Quentin keine Theatervorstellung mehr gegeben. Vierundvierzig Jahre später sollte hier jetzt ein Stück aufgeführt werden, das man hauptsächlich deshalb ausgewählt hatte, weil es keine Frauenrollen enthielt: Samuel Becketts Warten auf Godot. (…)

Ein Reporter des San Francisco Chronicle, der bei der Aufführung zugegen war, bemerkte, die Häftlinge hätten keine Schwierigkeiten gehabt, das Stück zu verstehen. Ein Gefangener sagte ihm: »Godot ist die Gesellschaft.« Ein anderer meinte: »Er ist die Außenwelt.« (…) Es heißt, Godot selbst wie auch Redewendungen und andere Figuren des Stückes seien seither zu einem festen Bestandteil des Zuchthausjargons, der Anstaltsmythologie von San Quentin geworden. (Oben rechts: das Zuchthaus von Bautzen)

DSCN4703Kritiker und Rezensenten jedoch schimpften über die absurden Werke, weil sie sie am konventionellen Theater maßen, und Esslin gibt zu, sie könnten »unausweichlich als ein unverschämter und unerhörter Schwindel anmuten«. Warum? Nun, die absurden Stücke haben keine nennenswerte Handlung, und die auftretenden Menschen wirken eher wie Marionetten denn Charaktere, und manchmal gibt es nur zusammenhangloses Geschwätz zu hören. Und all das wird nicht diskutiert oder hinterfragt, sondern einfach so dahingestellt. Die schöne alte Theaterwelt wurde hier irgendwie, ja, sprechen wir es aus: verarscht. Doch eine echte Bewegung wie etwa Dada oder der Naturalismus des 19. Jahrhunderts war das Theater des Absurden nie; die Autoren arbeiteten als Einzelgänger und scheuten die Öffentlichkeit.

Das lag am Zeitgeist und an der Weltgeschichte. Esslin analysierte:

Das Hauptmerkmal dieser Geisteshaltung ist die Erkenntnis, dass die Gewissheiten und unerschütterlichen Glaubenssätze früherer Zeiten hinweggefegt sind … Der Zerfall des religiösen Glaubens trat bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mit voller Klarheit zutage, weil Ersatzreligionen wie die Fortschrittsgläubigkeit, der Nationalsozialismus und verschiedene totalitäre Trugbilder an seine Stelle getreten waren. Mit alldem räumte der Krieg auf. 

RsamuelDie Dramatiker hätten allesamt unter einem Gefühl der metaphysischen Angst angesichts der Absurdität der menschlichen Existenz gelitten und dies ausgedrückt. Die Zuschauer konnten das nachvollziehen, die Stücken trafen einen Nerv. In Deutschland könnte man Wolfgang Borchert (1921-1947) und Günter Eich (1907-1972) zu den Protagonisten zählen, auch wenn Eich nur dramatisierte Hörstücke verfasste. Die Großen des absurden Theaters waren Samuel Beckett (1906-1989, rechts zu sehen), Arthur Adamov (1908-1970), Jean Genet (1910-1986), Eugène Ionesco (1909-1994) und Harold Pinter (1930-2008). Von diesen fünf erhielten zwei den Literatur-Nobelpreis: Beckett 1969 und Pinter 2005.

Wir könnten nun seitenweise aus Theaterstücken zitieren, gehen aber über zu einem Ungarn — ein Mann aus Budapest wie Martin Esslin —, der 2002 mit dem Nobelpreis bedacht wurde: Imre Kertész (1929-2016). Sein Buch Liquidation (2003) hatte ich gerade in der Hand. Der Autor wurde als 14-jähriger nach Auschwitz und ins Lager DSCN2605Buchenwald verschleppt; danach lebte er bis in die 1990-er Jahre in Ungarn, also im Ostblock. Dort tat man sich als Publizist schwer und musste sich unwillkürlich an Franz Kafka erinnert fühlen, den Stammvater des Absurden, der in den Romanen Der Prozess und Das Schloss seinen Protagonisten K. gegen ein unsichtbares, uneinsehbares Netzwerk aus negativen Kräften anrennen lässt.

In der Liquidation, die wir morgen näher vorstellen, verliert der Erzähler und Lektor Keserü zusehends den Kontakt zur Wirklichkeit. Er sieht nur »Lösungen anstelle von Leben« und tut seine Arbeit lustlos. Sein Kollege Kürti lässt sich (in einem Theaterstück) vernehmen:

Ich bin Zuschauer geworden. Und ich schaue nicht einmal von den vorderen Reihen aus zu, sondern von der Galerie. Vielleicht bin ich müde geworden. Vielleicht habe ich nie richtig geglaubt, was ich geglaubt habe. 

Keserüs Kollege Obláth tröstet ihn:

Hier verpfuscht jeder sein Leben. Das ist eine hiesige Spezialität, der genius loci. Wer hier sein Leben nicht verpfuscht, ist schlichtweg unbegabt.

Sára und ihr Mann Kürti unterhalten sich.

SÁRA: Hör mal, Sándor, wäre es nicht einfacher, wir ließen uns scheiden?
KÜRTI: Sicher. Einfacher wäre es.
SÁRA: Warum lassen wir uns dann nicht scheiden?
KÜRTI: Wozu? Das wäre auch nicht weniger sinnlos als zusammenzubleiben. Von den vielen Unannehmlichkeiten gar nicht zu reden.

Das ist schon ziemlich absurd. — Man wartet auf jemanden, der nicht kommt (Godot) oder sieht in Paris Nashörner oder soll erklären, dass man nicht der ist, der man ist … doch das ist nur einen Grad verrückter als das, was einem manchmal zugemutet wird. Wenn einer die Wirklichkeit für absurd hält, ist er vielleicht verrückt, aber wenn viele das tun, liegt es vielleicht an der Wirklichkeit, an der alle um uns herum pausenlos arbeiten.

 

 

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