Muss ein Schluss?

Ich ging mit Der gute Mensch von Sezuan zu einem Heimbewohner, der Brecht verehrt, und da lag das  Stück gedruckt nochmal auf seinem Tisch. Ich las ihm den Epilog vor und fand erst später, dass er gut auf Silvester passt —und füge dem Epilog meinen manipogo-Epilog an, den ihr dann mit einem eigenen ergänzen könnt … und nach drei Epilogen kommen wir dann zum Prolog des Neues Jahres 2024. 

Shen Te, die gute Frau, hat sich als ihr Cousin verkleidet und spielt auch den Bösen; und sie gibt’s auch zu: Die berichteten Untaten gingen auf ihr Konto. Der erste Gott hat Verständnis: »Ein Missverständnis! Einige unglückliche Vorkommnisse! Ein paar Nachbarn ohne Herz! Etwas Übereifer!« (Anfang 1943, als das Stück in Zürich aufgeführt wurde, waren die Nationalsozialisten noch am Ruder, und erst später merkte man das ganze Tragweite ihrer Schreckensherrschaft.) Jedenfalls die Götter entschweben und lassen alle ratlos zurück. Der Vorhang schließt sich. Vor ihn tritt dann ein Schauspieler und spricht:

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Der Schauspieler fleht das Publikum an: Wir brauchen euch. Wir sind bankrott, wenn ihr uns nicht empfehlt. Was könnte die Lösung sein? Eine andere Welt? Weiter:

Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
6956057129_022e38f274_bDer einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach.
Auf welche Weis dem guten Mann
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!

Mein Epilog folgt, und ich versuche es auch mit Reim.

Bevor ihr geht, ein Wort noch: gar nichts muss!
Und gut muss er dann auch nicht sein, der Schluss,
den wir nur brauchen, weil ihr hier nicht Tage,
Wochen oder Jahre zusehn wollt, das wäre eine Plage!
Ihr müsst ja heim, drum sag ich euch, dass jeder Schluss
ein Notbehelf nur ist, Verzierung: wie ein Zuckerguss.
Im Leben geht es, wie wir wissen, immer weiter,
man arrangiert sich, ist mal traurig und mal heiter.
Ein Happy-End mit einem Paar und einem langen Kuss
ist der Prolog nur für die Ehe, die zu Unlust führen muss.
Und wenn, bevor der Vorhang fällt, auch alle tot am Boden liegen:
Die Seelen fahren aus und gehn ins Licht, fühlen sich siegen.

Sie sind ja ewig und stehn außerhalb der Zeit
und irgendwann dann nehmen sie ein andres Kleid
und kommen wieder auf die Erde nieder
woanders, und sie singen andre Lieder.
Die Tagesschau, sie endet, und die Sprecherin
steht auf und schminkt sich ab und geht dahin,
was trinken in der Bar mit ihrem Mann,
der einen Epilog sprach und nun wieder saufen kann.

Drum sag ich: Vergesst, was man euch sagte, diesen Schluss!
Denkt lieber, wie es weitergeht, denn das, das muss!
Und wird! Und denkt bei jedem Fernsehstück,
wenn’s endet mit dem altgewohnten Glück,
wie’s weitergeht. Die Fortsetzung schreibt ihr!
Und ohne Schluss! Schreibt weiter, lebt und schreibt,
es ist ja alles in Bewegung und nichts bleibt.

r001-019

 

Wir sehn’s an diesem Jahr: Das Ende ist auch ein Beginn,
und das gilt überall, das ist der große Sinn.
Vergesst die Schlüsse und die Grenzen und die Mauern!
Alles ist offen; wer’s nicht sieht, ist zu bedauern.
Und wenn uns jemand sagt im Neuen Jahr: Das muss!
So lasst uns sagen: Denk erst nach! — Das ist ein guter Schluss.

 

 

 

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