Flugverkehr (160): Drei Menschen im Ballon

Entfernen wir uns am ersten Tag des Jahres von der Erde, fangen wir 2024 mit dem 160. Flugverkehr an! W. G. Sebald, vor 22 Jahren von uns gegangen, erinnerte in seinem Buch Logis in einem Landhaus an das Prosastück Ballonfahrt von Robert Walser, das 1913 erschien. Walser schreibt immer schön, und der Text war im Gutenberg-Projekt zu finden. Wir widmen uns ihm (dem Text).

Vor 5 Jahren hatte manipogo den Giannozzo, der bei Jean Paul über die Welt fliegt und abstürzt. Sebald fiel eine Ballon-Geschichte bei Wladimir Nabokow dazu ein; wir hatten, vier Jahre später, den unglückseligen Drachen, der Walter in einer Geschichte von Patricia Highsmith hochträgt und abwirft. Bei Robert Walser geht es aber eher gemütlich zu.

Die drei Menschen, der Kapitän, ein Herr und ein junges Mädchen, steigen in den Korb ein, die befestigenden Stricke werden losgeknöpft, und das seltsame Haus fliegt langsam, als ob es sich erst noch auf irgend etwas besänne, in die Höhe; gute Reise!, rufen die versammelten Menschen von unten her, hüte- und taschentuchschwenkend, nach. Es ist zehn Uhr abends im Sommer. Der Kapitän zieht eine Landkarte zu einer Tasche heraus und bittet den Herrn, sich mit Kartenlesen beschäftigen zu wollen. Man kann lesen und vergleichen, alles Sichtbare ist hell. Es hat alles eine beinahe bräunliche Helle. Die schöne Mondnacht scheint den prachtvollen Ballon in unsichtbare Arme zu nehmen, sanft und still fliegt der rundliche Körper zur Höhe, und nun wird er, kaum, daß man es bemerkt, von feinen Winden nördlich getrieben.

Die versammelten Menschen rufen Gute Reise!, und wir müssen wiederum das Bild bemühen, das 2018 Giannozzo begleitete und einige Jahre vorher bei St. Gallen aufgenommen wurde.

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Das liebe, bedeutsame Mondlicht macht die Flüsse silbern kenntlich. Man sieht Häuser da unten, so klein, dem unschuldigen Spielzeug ähnlich. Die Wälder scheinen dunkle, uralte Lieder zu singen, aber dieser Gesang mutet eher wie eine edle, stumme Wissenschaft an. Das Bild der Erde sieht den Zügen eines schlafenden, großen Mannes ähnlich, wenigstens träumt so das jugendliche Mädchen, es läßt seine bezaubernde Hand träge über den Rand des Korbes herabhängen. (…) Wie still die Erde ist. Man sieht alles deutlich, die einzelnen Menschen in den Dorfgassen, die Kirchspitzen, den Knecht, wie er, vom langen Tagwerk ermüdet, schwerfällig über den Hof schreitet, die geisterhafte, vorbeisausende Eisenbahn, die blendendweiße lange Landstraße. Bekanntes und unbekanntes Menschenleid scheint von unten heraufzumurmeln. Die Einsamkeit verlorner Gegenden hat ihren besondern Ton, und man meint, dieses Besondere, dieses Unverständliche verstehen, ja sogar sehen zu sollen. 

mattmark

 

Der Tag geht zu Ende. Das lautlose Land. Mitternacht.

Eine ganze Erde träumt jetzt, und ein Volk ruht von Mühsalen aus. Das Mädchen lächelt. Und wie es warm ist, es ist, als säße man in einer heimatanmutenden Stube, bei Mutter, Tante, Schwester, Bruder, oder bei dem Geliebten, bei der friedlichen Lampe und läse in einer schönen, aber etwas eintönigen, langen, langen Geschichte. Das Mädchen will einschlafen, sie ist jetzt etwas ermüdet vom Schauen.

Es beginnt zu tagen.

Unten in den Siedelungen erwacht schon wieder das menschliche Leben. … Es zeigen sich jetzt Farben, und die Dinge werden bestimmter. Man sieht Seen in ihren zeichnerischen Umrissen, wundervoll zwischen Wäldern verborgen, man erblickt Ruinen alter Festungen zwischen altem Laubwerk hochaufragen; Hügel erheben sich fast spurlos, Schwäne sieht man weißlich im Gewässer zittern, und Stimmen des menschlichen Lebens werden sympathisch laut, und man fliegt immer weiter, und endlich zeigt sich die herrliche Sonne, und von diesem stolzen Gestirn angezogen schießt der Ballon in zauberische, schwindelerregende Höhe. Das Mädchen stößt einen Schreckensschrei aus. Die Männer lachen.

 

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