Kriemhild und Siegfried: vereint

Im Oktober hatte ich über Siegfried Demmins Tod geschrieben und muss nun vermelden, dass seine Kriemhild drei Monate nach ihm auch gestorben ist. Sie waren 60 Jahre lang verheiratet, und sie muss wohl verstanden haben, dass ihr Siegfried nicht mehr da war. Nicht alle Ehepartner verkraften den Tod des anderen. 

Schon sechs Wochen nach Siegfrieds Tod zog sie, die im Erdgeschoß immer auf- und abgelaufen war, sich zurück und blieb auf ihrem Zimmer. Sie legte sich ins Bett. Ich kenne die medizinischen Hintergründe nicht, denke aber, dass ihr Lebenswille nicht mehr da war. Auch ein anderer Bewohner, der »mit mir« vor 6 Jahren ins Heim gekommen war (ich als Mitarbeiter), starb im vergangenen Jahr — zwei Monate nach seiner Frau.

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Siegfried und Kriemhild: sie immer etwas ungehalten

 

In den Wintermonaten sterben mehr Bewohner als sonst. Man müsste damit vertraut sein — aber man denkt nicht an den Tod. Man geht Tag für Tag mit diesen lieben Leuten um und meint, sie würden ewig leben. An dem Tag, als ich von Kriemhilds Tod erfuhr, gab es auch zwei andere Todesfälle zu beklagen: ein Mann im dritten Stock, der immer Fußball schaute und alles über den SC Freiburg wusste; und mein Günter Decker im Erdgeschoß, der Brecht verehrte und viele Daten und Namen aus der Literatur kannte. Manchmal war es, als könnte er meine Gedanken lesen. An dem Sonntag, an dem ich zum letzten Mal mit ihm sprach, fragte er: »Kennen Sie Alexander Mitscherlich?«

Ja, natürlich: es war der Name, der mir im Gespräch mit der Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen vor zwei Wochen nicht einfallen wollte. Stefan Andres kannte er und Manès Sperber, Friedrich Dürrenmatt und Peter Huchel, den er oft zitierte. Brecht hat er geliebt, und für Herrn Decker zitieren wir dessen vielleicht letztes Gedicht: als er todkrank 1956 in Berlin in der Klinik lag.

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité
Aufwachte gegen Morgen zu
Und die Amsel hörte, wußte ich
Es besser. Schon seit geraumer Zeit
Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts
Mir je fehlen kann, vorausgesetzt
Ich selber fehle. Jetzt
Gelang es mir, mich zu freuen
Alles Amselgesanges nach mir auch.

Vielleicht noch eins von Peter Huchel.

Am Jordan

Söhne,
hebt mich auf,
hebt mich ins große Vergessen,
in den Rauch, der nichts verdunkelt,
in die flammende Akazie,
niederstürzend über dem Wind,
in den Steppenhimmel
wandernder Schafe.

An diesem Morgen
bewundern meine eitrigen Augen,
die Hagar sahen,
den fließenden Schimmer
des Jordans
auf bleibenden Weidenblättern.

Das Leben geht auf der Erde weiter, auch ohne uns. Wir sind dann woanders. — Die Dahingegangenen sind frei, und vielleicht gibt es für sie auch keine Demenz mehr. Nur uns, denen sie so viel gegeben haben, fehlen sie.

 

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