Visionen auf dem Weg

Ein paar Stellen aus dem großartigen Roman Kristin Lavranstochter sollen noch sein: wo es um das Übersinnliche geht. Wir nehmen ja so wenig wahr; das Unsichtbare um uns herum bleibt uns verschlossen. Romanautoren haben es gestaltet, und Sigrid Undset machte das überzeugend.

Kristin hört in der Nacht südlich des Gebirges Hufschläge. Sie bleibt zunächst auf ihrem Stein auf der Almwiese sitzen, dann bewegt sie sich zur Hütte — und ein Reiter taucht auf und hält an. Es ist Simon und sagt: »Jesus, Kristin, bist du es selber oder … Wie geht es zu, dass du um diese Nachtzeit draußen bist? Hast du mich erwartet?« Und er fragt: »Hast du eine Vorbotschaft über mein Kommen erhalten?« Simon ist höchst besorgt: Sein Kind, Andres, ist schwer krank.

Donohoe_2sw»Ist es wahr«, fragte Simon, »dass du keine Vorbotschaft bekommen hast?«
Kristin sagte, dies sei wahr. Er fuhr fort:
»Ich habe gehört, es soll vorkommen, dass einer eine Vorbotschaft erhält, wenn jemand sich so recht nach ihm sehnt. Ramborg und ich, wir sagten mehrere Male, wärest du bei uns, wüsstest du vielleicht einen Rat.« (S. 602)

Diese Vorbotschaft oder Vardoegr waren auf manipogo schon erwähnt worden: in den Beiträgen Aussendung von Gedankenformen und Der Vardoegr, noch einmal. Man sagt, wenn jemand intensiv an einen anderen denkt, sendet er gleichzeitig seinen Astralkörper dorthin. Es kann vorkommen, dass dieser gesehen wird. In den nordischen Ländern ahnte man mitunter, dass jemand kommen würde, weil er sich vorher geisterhaft zeigte; und man legte ein Gedeck für ihn auf, denn zwei Tage später kam er tatsächlich.

Man kennt das: Aus unerklärlichen Gründen muss man an jemanden denken, zwanghaft fast; danach hört man, dass dieser Mensch tatsächlich an einen gedacht hat. Wir sind alle unterirdisch miteinander verbunden, und Menschen, die sich nahestehen, besonders. (Was in meinen alten Beiträgen geschildert wird, dass jemand einen anderen durch sein Auftauchen ankündigt, ist damit verwandt, hat aber wohl nichts mit Emotionen zu tun.)

Œ Λ

Später erleidet Simon eine Wunde am Arm, die sich entzündet. Es ist wohl eine Blutvergiftung, die rasch fortschreitet. Mit seinen Knechten begibt er sich in der Winternacht auf den langen Heimweg.

DSCN2502Drinnen im Wald lag das Licht unsicher in Tropfen und Streifen zwischen den schneebeschwerten Tannen. Simon sah dies alles.
Gleichzeitig aber sah er vollkommen deutlich eine Wiese voller Buckel mit aschbraunem Gras in zeitiger Frühjahrssonne. … Sie gingen zum Erlengebüsch hinunter, Simon Reidarssohn und er trugen Fischgeräte und Hechtspeere, sie wollten an den See, der dunkelgrau mit morschem Frühjahrseis dalag, und dort fischen. — Sein toter Vetter ging ihm zur Seite; er sah das krause Haar des Spielgenossen, das aus der Mütze hervorquoll, rötlich in der Frühjahrssonne leuchten …
Obwohl ihm alles bewusst war — er sah die ganze Zeit den Reitweg bergauf und bergab durch den Wald, blickte … über weiße Äcker im glitzernden Mondschein hin … Er dachte an die mühseligen Meilen. Der Schmerz jagte durch seinen ganzen Körper, wenn er im Sattel gestoßen wurde, heim aber wollte er. Denn jetzt wusste er, dass er vom Tode gezeichnet war.

Das haben auch andere berichtet: Dass die Vision sich in ihr Leben einblendete, dass sie ein paar Sekunden oder Minuten in zwei Welten gleichzeitig lebten, die sich überlagerten.

Zwei Mal hat Kristin Visionen von Toten. Im ersten Fall sitzt sie neben ihrem geliebten Erlend bei der Brautmesse in der Kirche. Lang vorher war ein Drama geschehen: Eline, die vorherige Partnerin Erlends, kam auf Besuch und wollte, da eifersüchtig, Kristin vergiften; als Erlend eingriff, stieß sie sich ein Messer ins Herz. Kristin denkt daran.

st olafSie versuchte, zu Sankt Olavs Bildnis aufzusehen — rot und weiß und schön stand er auf seine Axt gelehnt und trat sein eigenes, ssündiges, menschliches Wesen unter die Füße, aber Herr Björn zog ihren Blick an. Und in seiner Nähe sah sie Eline Ormstochters totes Gesicht, gleichgültig blickte sie Kristin an. Sie waren über Eline hinweggegangen, um bis hierher zu gelangen — und Eline gönnte es ihnen.
Sie hatte sich aufgerichtet, hatte alle Steine fortgewälzt, die Kristin auf die Tote aufzuhäufen versucht hatte: Erlends vergeudete Jugend, den Verlust seiner Ehre und seines Wohlergehens, die Gunst der Freunde, das Heil seiner Seele. Die Tote schüttelte das alles von sich ab. Er wollte mich haben, und ich wollte ihn haben, du wolltest ihn haben, und er wollte dich haben, sagte Eline. Ich habe gebüßt, und er muss büßen, und du musst büßen, wenn deine Zeit gekommen ist.

Dann, einige Zeit später, muss Kristin mit ihrem Kind für eine Nacht bei den Minoritenbrüdern unterkommen, zu denen Edvin gehörte, der Mönch, den sie liebte und bis zu seinem Tod pflegte.

Mitten in der Nacht erwachte sie. Der Mond schien herein, sommerlich, honiggelb und bleich; er schien auf das Kind und sie, beleuchtete die Wand mitten vor ihr. Da gewahrte sie, dass ein Mensch mitten in dem Mondenstrom stand, schwebend zwischen Boden und Dachgebälk.
Er war in eine aschgraue Kutte gekleidet, groß und mit gebeugtem Rücken. Jetzt wandte er ihr das uralte gefurchte Antlitz zu. Es war Bruder sanfrancescopEdvin. Er lächelte so unsagbar zärtlich — ein wenig verschmitzt, genauso wie damals, als er noch auf Erden lebte.
Kristin geriet keineswegs in Erstaunen. Demütig, glücklich, voller Erwartung sah sie ihn an und wartete darauf, was er sagen oder tun würde.
Der Mönch lächelte ihr zu, er hielt einen alten schwarzen Pelzfäustling zu ihr empor, dann hängte er ihn an einem Mondstrahl auf. Darauf lächelte er noch mehr, nickte ihr zu und war verschwunden.

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