Der intime Tod

Die Überschrift war der Originaltitel eines kleinen Buches von Marie de Hennezel, einer 1946 geborenen Psychotherapeutin, die aus ihrem Alltag im Hospiz erzählte. Aber Bastei-Lübbe musste es natürlich anders nennen, Den Tod erleben. Als ob das besser wäre. Ein gutes Buch, das jedoch auch viele, auch kritische Fragen aufwirft.

DSCN4572Sieben Jahre hat Frau Hennezel in Paris im Hospiz gearbeitet, bis sie ihr Buch schrieb; das ist ja nichts im Vergleich zu Judy Hilyard, wir erinnern uns! Viele junge Aids-Patienten gab es damals, 1995, das war schlimm, und so begleitet sie Danièle, Louis, Marie-France, Paul und Dimitri, bis deren Leben zu Ende geht. Die Mitarbeiterinnen sind alle sehr einfühlsam und warmherzig, für diese Sterbenden konnte es keinen besseren Platz geben.

Es wird viel von Sinn geredet, auch das Wort spirituell fällt des öfteren, aber was bedeutet es? Das Wort Gott fällt selten, und was nach dem Tod passiert, das lässt die Autorin wohlweislich im Dunkel, weil sie Psychologin ist (Psychologen sind ja traditionell un-spirituell oder anti-spirituell), obschon an C. G. Jung geschult, aber der hielt sich ja auch immer bedeckt, und nicht mal sein Nahtod-Erlebnis führte ihn zum Gedanken, es könnte so etwas wie einen Himmel geben, so rational war er.

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Marie de Hennezel erinnert sich:

Meine Großmutter starb Jahre später mit den Worten: »Das Licht! Es stimmt also doch!« In meinem tiefsten Inneren begriff ich, dass der Tod selbst nichts Besonderes ist, wahrscheinlich der Weg in eine mysteriöse Dimension.

Eine mysteriöse Dimension, aha. — Vorher gibt es aber noch etwas zu tun. Paul hat seinen Eltern nicht gesagt, dass er homosexuell ist; sie wissen es ikgadoodzwar, wollen aber nicht, dass er weiß, dass sie es wissen. Dominique möchte nach 30 Jahren gern ihre Schwester Léa widersehen. Eine Frau sagte: »Nein, niemand hält mich am Leben, aber es gibt noch so viele unerledigte Dinge.« Man will nicht sterben, solange einige Dinge noch in der Schwebe sind. Man will ein aufgeräumtes Zimmer hinterlassen (siehe das Bild oben: unser damaliges Wohnzimmer in St. Gallen-Ost.). Ein Mann wartete drei Monate auf den Besuch seiner Tochter, und am Tag nach ihrem Kommen starb er, erzählt die Autorin. Manchmal will man Verzeihung für etwas, das man getan hat. Vielleicht gibt es etwas in uns, das weiß, dass wir einen guten Neubeginn brauchen, weil es ja weitergeht. (Bild links: Plakat in Amsterdam, 1994. Ein Mann, an Aids erkrankt, kündigt an: Ich sterbe. Links sehen wir undeutlich den Fotografen.)

Frau de Hennezel:

Ich stellte nicht zum ersten Mal fest, dass die Patienten sich kurz vor ihrem Tod für die Menschen interessieren, die sie pflegen. Sie fragen, wie es uns geht, danken uns für das, was wir für sie getan haben. Manchmal versprechen sie. uns zu helfen, sofern dies nach dem Tod möglich sein sollte.

Ein Priester sagte (in dem Buch):

IMG_2233Wir bewegen uns in einem Tal der Tränen, und wir wissen genau, dass dieses Dasein nur das Vorzimmer zum wahren Leben ist.

Aber oft wirken Priester so, als wüssten sie das nicht genau. — Die Autorin:

Der Glaube an ein Jenseits nach dem Tod ist jedoch keine große Hilfe, wenn es nicht seine Wurzeln in einer wirklich erlebten, persönlichen und tiefen Erfahrung hat. … Es ist nicht der Glaube, sondern die Intensität des Lebens, die man hinter sich lässt und die einem dabei hilft, sich auf den Tod vorzubereiten.

Wenn es um den Tod geht — was könnte da die wirklich erlebte Erfahrung sein? Ja, die Nahtod-Erfahrung; aber die haben nur wenige. Zweitausend Jahre haben Christen fest geglaubt, dass sie ins Himmelreich kommen, und wer richtig glaubt, gehört zu den Seligen. Die Psychologin de Hennizel hängt irgendwie zu stark am Leben; das Leben wichtig zu nehmen ist ja okay, aber im Angesicht des Todes, der ganz nah vor einem steht — hilft einem das? Wer sich auf das Thema einlässt, weiß, dass es eine Tatsache ist: Wir alle leben weiter. Schade, dass die Autorin nichts davon wissen will und darum den alles entscheidenden letzten Schritt nicht tut. Sie löst sich nicht vom Leben, sie hat Angst vor der Transzendenz, die ja schon durch katholische Heilige offenbar wird.

Stattdessen lässt sie Danièle zu Wort kommen, die Gott leugnet, aber »etwas Ewiges« verortet (Seele, Bewusstsein?) und sagt: »Reinkarnation oder Übergang zu einer völlig neuen Ebene …« Diese vagen Vermutungen nennt Frau de Hennizel das »spirituelle Testament« Danièles. Was ist daran spirituell? So denken heute aber viele. Die meisten denken, mit dem Tod sei alles zu Ende.

Zwei Träume in dem Buch deutet sie aus ihrer weltlichen Perspektive heraus falsch. Louis sitzt im Traum auf eine Schiff wie in dem Fellini-Film E la nave va und ist ein Darsteller. Er sieht seine eigenen Beine, die dünn sind und sich langsam zersetzen, doch daneben ein paar neue, rosige Beine. Er sagt:

Es sieht aus wie neugeborene Beine! Ein merkwürdiger Traum.

9756ddf7-af16-4a1a-9de5-4e27d9348950Ich würde ihm sagen: Bald ist es soweit, deine Reise steht vor dir, und danach wirst du wieder wie neu sein; das sagen alle, das wissen wir. Jung und wieder gesund wirst du sein. — Frau de Hennizel schwafelt etwas herum und weist auf einen Text von Maurice Zundel (1897-1975) hin, in dem dieser »sehr weit geht«. Er spekuliert nämlich auf »eine Art Umwandlung unseres physischen Körpers in eine andere, metaphysische Erscheinungsform …« Das ist dann wiederum so kompliziert und abstrakt formuliert, dass sich niemand darunter etwas vorstellen kann. Zundel lehnte übrigens das Gottesbild der Kirchen ab und berief sich auf den Menschen, das ist sehr existenzialistisch und französisch-rational.

Noch gröber die Fehlinterpretation der Therapeutin bei einem Traum von Dimitri, der klarer nicht sein könnte:

018Ich stehe am Strand und und bin mit einer sehr schönen, sehr sperrigen Metallrüstung bekleidet. Eine mächtige Stimme befiehlt mir, ins Wasser zu kommen. Ich habe große Angst, denn ich werde mit dieser Rüstung bestimmt untergehen. Gleichzeitig kann ich mich dem Zwang, ins Meer zu steigen, nicht entziehen. Ich schreite langsam und sehr ängstlich voran, denn ich weiß, dass ich mit der Rüstung nicht schwimmen kann. Ich wage mich im Meer vor, bis ich fast nicht mehr stehen kann. Und plötzlich, als ich am Höhepunkt meiner Ängste angelangt bin, öffnet sich die Rüstung: Ich schwimme frei und glücklich. 

Wunderbar! würde ich ausrufen. Die majestätische Stimme: vielleicht Ihr Geistführer. Vielleicht Gott selbst. Ist der Körper einmal abgeworfen, ist man frei. Und glücklich. Bald sind Sie das;  ich beneide Sie.

Für Frau de Hennezel bedeutet die Rüstung seine »soziale Maske«, die er ablegen solle; er solle es wagen, »er selbst« zu sein, solle das Todesmeer in ein Lebensmeer verwandeln. Na ja. Dimitri ist »sehr berührt«. Allerdings ist sich die Psychologin ins eigene Netz gegangen; sie hat sich entblößt, ohne es zu merken … Wir haben es gemerkt! Der alte Charmeur Dimitri hat ihr Herz gewonnen, er sprach von Venedig, dorthin wolle er sie mitnehmen … und dann sind ein paar Verehrerinnen, noch dazu »gutaussehende« Verehrerinnen im Krankenzimmer, und die Therapeutin findet, dass Dimitri Arroganz ausstrahlt und eine miese Rolle spielt. (Sieht nach Eifersucht aus.) Sein gockelhaftes Getue ist für sie eine »Maske«, der Traum sagt ihm angeblich: Sei du selbst. Er sagt nicht, wie er das tun soll, außerdem fehlt ihm dafür die Zeit, denn eine Woche später, an Ostern, ist er tot. In seiner Todesstunde denkt Marie an Dimitri, und in Venedig (kleine Pilgerfahrt) auch. Psychologinnen sind ja nicht immun gegen Gefühle.

Ø Λ Ø

Ach ja, und der Präsident kam vorbei, kam zu Besuch. François Mitterrand. Da fühlt man sich auch geschmeichelt. Ihn interessierte der Tod. Kein Wunder: In dem Jahr, in dem er zum französischen Präsidenten gewählt wurde (1981), wurde bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert, und die Ärzte gaben ihm noch 3 Jahre. Es blieben ihm aber noch 14 Jahre. Nach dem Jahr, in dem das Buch erschien und nach seiner zweiten Amtsszeit, starb er, am 8. Januar 1996.

 

 

 

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