Verfall und Nachleben

Dieser Buchtitel gefiel mir: Decay and Afterlife. Verfall und Nachleben, so habe ich das übersetzt. Es ist ein teures amerikanisches Buch über die »Textualität von Ruinen«. Wunderbar, genau mein Thema, ich liebe öde Plätze und zerfallene Strukturen. Der Todestrieb, würde Freud sagen. Oder ist es eine klammheimliche Freude am Untergang, die vielleicht jeder in sich trägt? Ich finde, Ruinen haben Charme.

Das werden Berliner, Dresdner und Münchner nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gedacht haben. — Ich denke an echt alte Ruinen. Das Buch Decay and Afterlife wurde übrigens vor 2 Jahren von Aleksandra Prica geschrieben, Dozentin für deutsche Literatur an der Universität von North-Carolina. Ruinen, wird dazu erläutert, »laden uns dazu ein, ihnen einen Sinn zu geben, und zerstören gleichzeitig unsere Versuche, das zu tun«. Etwas schwerfällig übersetzt habe ich das. Im Original: They »both invite and undo efforts to make sense of them«.

Die junge Frau mit dem eigenwilligen Namen hat sicher die Literaturgeschichte durchforstet, zitiert gewiss Goethe (das muss man), vielleicht auch Jean-Jacques (deutsch: Johann-Jakob) Rousseau und wohl auch (Johann Jakob) Winckelmann (1717-1768), der den Spruch »edle Einfalt und stille Größe« für die alten Griechen fand. Er machte im 18. Jahrhundert die Beschäftigung mit dem Altertum salonfähig.

Es wurde schick, in Parks Säulen aufzustellen und Überreste von Mauern. Das war dann »romantisch«, und die Romantik, die im ersten Teil des 19. Jahrhunderts grassierte, mochte auch das Unheimliche. Ja, man möchte den Ruinen einen Sinn verleihen, aber sie sagen ja nichts, sie sind wie zerstörte Körper ohne Seele. Natürlich können sie manchmal eine Stimmung ausdrücken oder Metapher sein für etwas »Ruiniertes«, auch wenn das gar zu platt wäre. Ruinen sind eben da und warten darauf, dass wir etwas mit ihnen anfangen, und das ist mit allen Dingen so. Wir erst geben ihnen Bedeutung.

Kurz nachdem ich diesen Titel entdeckt hatte, ging ich meine Straße entlang, einen Kilometer, zu einem Mann, der in einer Halle Autos repariert. Vor der Halle herrschte Chaos, das mir aber gefiel. Da standen vier Ruinen von Autos (zerbeult, ohne Reifen, ausgeschlachtet), in einem Schubkarren waren 10 alte Autoreifen gestapelt, andere Autos hingen kreuz und quer herum … wie es eben vor Werkstätten so ist. Das hätte auch in Italien oder Südfrankreich sein können, in Polen oder Bulgarien.

Ich sagte dem Besitzer auch, dass mir das gefiel. Es musste einfach so sein dort vor der Halle. Alles hatte seinen Platz, es war wie eine Installation. Kein Künstler hätte besser romantische Vergeblichkeit darstellen können. Da wurde gearbeitet, und nun sehen wir den traurigen Rest. Alles vergeht, könnte man sagen. Das wäre aber profan.

Bei einem Familientreffen sprach ich mit meinem Nachbarn auch über Ruinen. Er erwähnte ein großes, mittlerweile verlassenes Kloster in seinem Wohnort. Ja, Klosterbauwerke sind ein Problem, der Erhalt ist teuer, die Wiederinstandsetzung auch, und so werden wir mit leeren Schlössern, Klöstern, Theatern leben und mit aufgelassenen Malls, Tankstellen, Kinos und Supermärkten. Sie werden gern fotografiert, ja, warum? irgendwie steckt Trauer in uns allen, manchmal sieht die Welt düster aus, und diese verlassenen Gebäude trauern mit uns.

 

Ruinen, die dastehen, sprechen von Leben. Da war einmal Leben und ist vielleicht immer noch — doch wir bekommen keinen Zugang zu jener Zeit. Wir müssten medial begabt sein. Der Amerikaner Pat Price, der auf der Landkarte Gebäude »sehen« konnte, sah einmal ein Werk für die Wasseraufbereitung, von dem bei einem Lokaltermin keine Spur zu erblicken war. Eine Recherche ergab, dass die Einichtung vor 50 Jahren da gestanden hatte. Price hatte in die Vergangenheit geblickt; das alles ist irgendwo noch da mit Menschen und Umfeld, gespeichert in einer anderen Dimension.

Der italienische Sensitive Gustavo Rol bat gewöhnlich einen Gast, ihm eine Jahreszahl aus der Vergangenheit zu nennen, fiel in Trance, und bald hörten die Anwesenden Stimmen und Geräusche und rochen Düfte, und der Schleier hob sich eine Weile, und manchmal fiel sogar ein Geldstück aus jener Eoche von oben und kullerte auf den Boden. Die Vergangenheit ist noch irgendwo vorhanden, jedes Detail ist abrufbar, doch dieses Wissen wirklich ernst zu nehmen fällt uns schwer, die wir auf eine vergangene Vergangenheit und eine noch nicht existente Zukunft justiert sind. Das könnte der Sinn von Ruinen sein: Schau genau hin, da lebt etwas.

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