Stucklers Einsichten

Stuckler ist eine Figur in dem kürzlich behandelten Buch Die schöne Frau Seidenman von Andrzej Szczypiorski. Er ist der Polizeichef von Warschau, ein mächtiger Mann. Der Autor lässt ihn bei einem Ritt übers Land nachdenken und seine Motive aufdecken. Hat er richtig gehandelt?

Der Satz, der mir beim Schreiben des gestrigen Beitrags durch den Kopf schoss, war dieser:

Stuckler war nicht als gewissenloser Mörder geboren, weil nie und nirgends gewissenlose Mörder geboren werden.

Der Mann reitet über Land und macht sich seine Gedanken. Er denkt über sein Leben nach, und Szczypiorski lässt ihn denken, was ein glühender Nationalsozialist wohl denken mochte, um sein Gewissen zu beruhigen. Es war doch alles richtig! Muss alles richtig gewesen sein. Doch ihm, Stuckler, dämmert, dass es bald zu Ende sein könnte. Er denkt:

Wenn wir verlieren, werden sie eine Bilanz der Opfer aufstellen und zu dem Schluss gelangen, wir seien gewissenlose Verbrecher gewesen. Ich habe nicht mehr als hundert Juden töten lassen. Hätte ich nur zehn töten lassen, wäre ich dann moralischer und der Erlösung würdig gewesen? … Hätte ich nur wenige getötet, hätte ich die Feinde geschont, wäre ich ein Verräter an der eigenen Sache, denn Barmherzigkeit im Krieg ist Handeln zugunsten des Gegners, Verringerung der eigenen Chancen. So war es immer. Juden? Polen? Russen? Jeder verschonte Jude oder Pole kann verursachen, dass in diesem Krieg ein Deutscher umkommt, ein Mensch meiner Rasse, meines Blutes. … Ich habe mir den Krieg nicht ausgedacht, Adolf Hitler auch nicht, Gott selbst hat die Menschen zu Kriegern gemacht. So war es immer.

Hitler hat sich sehr wohl den Krieg ausgedacht, er dachte, es müsse sein, und es klang das Echo einer heiligen Pflicht nach wie das Gott will es! der Kreuzfahrer vor 1000 Jahren. Das So war es immer ist das Mantra des Bürgers, der fatalistisch ist und sich in vermeintlich Auswegloses fügt. Das Wetter — wir können es nicht ändern.

Stuckler wird als der typische Emporkömmling jener Zeit geschildert. Er interessierte sich für Geschichte und schöpfte heraus, was ihm passte. Niemand achtete ihn, erst in der SS fühlte er sich wohl, da hatte er die Staatsmacht im Rücken und schritt voran, als Ideal die unerbittliche Härte, die Goebbels predigte wie ein alttestamentarischer Unheilsprophet.

Er liebte die vergangenen Zeiten. Dort fand er die Männlichkeit und Entschlossenheit des menschlichen Wesens. Seine Nächsten dagegen waren Weichlinge. In der Formation der SS entdeckte er römische Züge.

Und die Geschichte dient ihm dazu, sein Tun zu rechtfertigen. Bald münzte man Charles Darwins Survival of the fittest um. Die am besten Angepassten, die Schlauesten kommen durch, meinte Darwin und konnte das auch belegen; doch die Positivisten machten daraus nach 1880 einen Sozialdarwinismus: Die Stärksten überleben und haben das Recht, die Schwächeren zu zertreten. Die Nationalsozialisten bauten das in ihren Traum der reinen Rasse ein. Es war eine perverse Religiösität.

Wie viele Sklaven haben diese Erde mit ihrer Asche gedüngt? Schon Rom hat den Grundsatz gemeinsamer Verantwortung angewandt, die Gesamtheit der römischen Bürger über alle anderen Bewohner der Erde gestellt. Nur sie erfreuten sich der Freiheit, nur ihnen standen Recht und Privilegien zu. So war es immer.

Und immer war man als Gefangener des Feindes ein verlorener Mann. Stuckler, der Polizeichef Warschaus, wird sich nicht rechtfertigen müssen. Szczypiorski lässt ihn in die Hände der Russen fallen, die ihn deportieren, weit weg, in ein sibirisches Straflager. Dort wird er immer schwächer und kann nicht mehr an seine Untaten denken, nur noch an seinen Hunger, bis er nicht mehr kann.

 

Dazu:

Die schöne Frau SeidenmanMusterknaben.

 

 

 

 

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