Der Gral

Zur blauen Blume gehört, finde ich, der Gral. Die Blume ist ein Traumbild, das dich leitet und dir Sinn gibt. Die Gralssage war 600 bis 700 Jahre vor Novalis aufgezeichnet worden, sie spielt im Umkreis der Tafelrunde von König Artus in England, und wünschte sich unser Dichter nicht zurück in die Zeit der edlen Ritter?

Schade, dass die Kritische Ausgabe+ in Bonn alle meine Kolumen aus den Jahren 2006 bis 2012 getilgt hat, denn ich hatte dort eine sechsteilige Artikelserie über den Gral. Die Geschichte ist sehr komplex, da kommen Ritter Lancelot vor, der sich mit Guinevere vergnügt, außerdem Gawain und natürlich Parzifal, dessen Leben Wolfram von Eschenbach beschrieben hat, der etwa von 1170 bis 1220 lebte. Nach vielen Verwicklungen landet Parzifal, der »reine Tor« (wie der Narr im Tarot), in einem unbekannten Schloss. Nur Menschen reinen Herzens können es erblicken. Er sieht den kranken König Anfortas, und schöne Jungfrauen tragen einen schillernden Kelch an ihm vorbei, doch am nächsten Tag ist er allein in dem verlassenen Schloss.

Später erfährt er, dass er ganz einfach fragen hätte müssen: Herr König, was fehlt euch? Dann hätte er mit seinem Mitgefühl den König geheilt. Also muss er nochmal sieben Jahre beten und büßen, bis er seinen Fehler gutmacht und selber zum Gralskönig wird. (Auch hier, siehe gestern: Wer versagt hat, bekommt eine zweite Chance.)

Der Gral ist christlichen Ursprungs. Er soll der Kelch sein, den Christus beim Letzten Abendmahl benutzte und in den auch sein Blut nach der Kreuzigung floss. Joseph von Arimatheia nahm ihn an sich, und er landete im Westen, auf einer Burg in Nordspanien, wenn ich mich recht entsinne. Montsalvatje. (Ich saß im Zug und fuhr vorbei, nach Gerona, damals, 2012, als manipogo entstand und ich mit dem Rad Spanien bereiste.) Wir im Westen wollen ja klare Dinge, greifbare Objekte: also der Gral als Kelch – und als Dreingabe die Lanze Longinus, mit der ein Soldat Christus in die Seite stach.

Das Himmelreich ist in euch, sagte Christus obendrein, doch er kam aus dem Nahen Osten, da spricht man eher von Epiphanie (Erscheinung) als von Inkarnation (Fleischwerdung). Der Gral versinnbildlicht den letzten Sinn, das Trachten des Menschen, ja, sein Trachten, denn man sagt, der Gral sei die Suche nach ihm. Im Jiu Jitsu ist der Schwarzgürtel das letzte Ziel, doch er ist auch der Weg; auch wenn du ihn hast, sollst du dennoch weiter nach persönlicher Verbesserung und Vervollkommnung streben, das steckt im Schwarzgurt drin.

 

Später suchten die Alchemisten nach dem Stein der Weisen, dem roten Leu (Löwen), und wiederum verdeckte das Gold, was diese Männer (meist Männer, abgesehen von Maria, der Alchemistin) eher als Nebenprodukt auffassten (die Herrscher jedoch ersehnten),  ihr Streben nach Vervollkommnung, nach innerem Glück, was die Hindus als Samadhi (Entäußerung) bezeichneten.

Heute wird das alles nicht mehr recht verstanden. Trotzdem kaufen die Leute Bücher über das Glück, bereisen alle möglichen Länder, stellen sich Aufgaben, suchen den Traumpartner, wollen ihr inneres Potenzial befreien und Karriere machen … Eigentlich hat sich nichts geändert. Die Suche nach Glück. Und hast du alles, was du begehrtest, so bist du meist dennoch unzufrieden. Der Gral ist immer noch irgendwo, und für jeden sieht er anders aus, aber Geld und hoher Status haben nichts damit zu tun.

Jeder einzelne Mensch der acht Milliarden müsste in sich gehen und sich selbst suchen wollen, dann würde er womöglich lernen, dass das höchste Glück darin besteht, seine Bedürfnisse nicht so wichtig zu nehmen, sondern dafür zu arbeiten, dass es seinem Mitmenschen gutgeht. Damit würde die Erde zu einem Paradies werden können, und vom Gral würde niemand mehr sprechen müssen. Es mögen noch tausend Jahre hingehen, bis das geschieht. Doch wir haben ja Zeit, wir leben ja ewig und schauen uns das aus der Entfernung an.

Dazu lesen:

Rudi und der Gral

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.