Ende der Ästhetik?
Der Essay Ende der Ästhetik von Roger Behrens (im neuen Visarte-Heft) hatte mich vor elf Tagen zum Lobpreis der Musik gebracht. Aber der Essay hat mehr verdient; also von neuem hinein, und vielleicht gelingt es mir zu zeigen, dass die Ästhetik (die Lehre vom Schönen) durchaus wichtig ist. Auch heute noch.
Der Autor geht gleich hart ran:
Dieselben Kräfte, die für die zunehmenden Krisen verantwortlich sind, für die Kriege und den Terror, die Naturzerstörung und ihre sozialen Folgen, die Zunahme von Angst, Aggression und Feindseligkeit, gelten nach wie vor als Lösungen für diese Krisen. Eine Umwälzung der Gesellschaft erscheint deshalb kategorisch ausgeschlossen, weil jedwede soziale Fantasie fehlt … Dass die Menschen sich keinerlei Illusionen mehr machen, findet seinen politischen Ausdruck im Verschwinden der Idee solidarisch-humanistischer Veränderung – was wiederum korrespondiert mit einer »Bilderarmut« in den Künsten …
Das ist etwas soziologisch geschrieben, aber durchaus wahr. Noch ein deutlicher Satz:
Es gibt keine radikale Linke mehr, ebenso wenig wie es eine radikale Kunst gibt. Das Ende der Linken wird bestätigt durch ein Ende der Ästhetik. Was derzeit noch übrig ist an emanzipatorischen wie utopischen Potenzialen einer kritischen Praxis, verliert sich zwischen Belanglosigkeit, Idiotie und Verzweiflung.
Mehr ist nicht zu sagen. – Die Erzeugnisse von Kunst und Kultur wurden zur Massenware, Kunst wurde »räumlich institutionalisiert« (in Museen gesteckt), und die Bürger lernten eine «ästhetische Urteilskraft«, um über ihre Haltung zu Kunstwerken sich selbst (und ihre Rolle) zu definieren, und sie mochten spüren, dass die Werke ein gewisses Unbehagen ausdrückten über diese Welt mit ihren Widersprüchen. Es fragt sich natürlich (Behrens fragt sich das), ob Kunst überhaupt »Bilder einer nichtkapitalistischen Zukunft« produzieren kann. Mark Fisher meinte ja, eine Welt ohne Kapital und Konsum sei gar nicht mehr vorstellbar.
Damit es etwas plastischer wird, verweise ich auf dem Aufsatz Welcome to the Word Factory, den Andrew Dean in der Sydney Review of Books veröffentlicht hat (am 3. Dezember). Dean ist Universitätsmitarbeiter und schrieb über die Künstliche Intelligenz (AI, Artificial Intelligence), die übrigens gerade durch Literatur viel gelernt hat. Die neuen Übersetzungsprogramme können zwischen zwei der seltsamsten Sprachen der Welt problemlos vermitteln. Der Autor:
Es liegt eine perverse Art von Gleichheit in diesem Zugang zur Information – es ist die Gleichheit totaler Beliebigkeit. Sprache besteht aus Daten und nicht aus Bedeutungen; sie ist Kommunikation, nicht Intensität. Dieses Konzept behandelt den Satz »April is the cruellest month« genauso wie »Deakin Reimagined will design an effective academic model to …« Es ist das Memorandum, nicht das Gedicht, das unter dem Ansatz von KI liegt, Sprache zu generieren.
Die Literaturwissenschaft indessen basiert auf der ästhetischen Unterscheidung: Ein Roman ist besser als der andere, dieser Satz wirkt stärker als jener. Die Universitäten jedoch orientieren sich heute wieder mehr an Kommunikations- und Medientheorien und wollen von Ästhetik nichts wissen: zu kompliziert. Andrew Dean jedenfalls meint, ohne ein ästhetisches Fundament werde es schwer werden, sich gegen das Computertum zu wehren, das die Literaturwissenschaft am liebsten aufsaugen möchte. Also die Fragen:
Was ist ästhetische Urteilskraft? Was ist eine ästhetische Erziehung? In welchem Ausmaß bieten literarische Studien eine Kritik an der Gesellschaft? Was tun wir, wenn wir Literatur lehren? Was müssen unsere Studenten wissen? Und was unterscheidet menschliches Schreiben von dem der Maschinen?
Roger Behrens wird am Ende seines Essays auch kämpferisch. Er beklagt, dass wir keine Potenziale mehr hätten, Kunst und die Künste zu reaktivieren.
Dass es anders sein könnte, wird kommunikativ beschwiegen – oder ist schlichtweg vergessen. Solange hier nicht Kritik als radikale Selbstkritik einsetzt, die sich auch ästhetisch auf die Möglichkeiten des Menschen wie die Wirklichkeit der Menschheit besinnt, verengt sich allerdings der Horizont der Geschichte immer weiter.

