Die Anomalie
Frau Krüger hatte mir zwei Wochen vor ihrem Tod noch ein Geschenk gemacht: ein Buch, schön in Blau eingepackt. Für Ostern. Sie dachte, das wäre was für mich. Es war der Roman Die Anomalie von Hervé de Tellier. Er hat 2020 dafür den Goncourt-Preis bekommen, es war ein SPIEGEL-Bestseller und ist jetzt als Taschenbuch kaufbar. Ich war gespannt. Alle lobten dieses angeblich einfallseeiche Buch. Ich kann’s nicht loben.
Also ist meine Ansicht eine Minderheitenmeinung. Doch ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit Anomalien, da gibt es wenige, die ich nicht kenne. Ich bin auf alles gefasst. Anomalie ist auch ein Feld innerhalb der Parapsychologie, und der wichtigste Vertreter war Charles Hoy Fort (rechts; 1874-1932). Für mich muss ein Roman über eine Anomalie also schon überzeugend sein. Das war der Roman aber nicht.
Kurz die Handlung: Eine große Boeing fliegt von Paris nach New York, gerät in seltsames Wetter und landet. Drei Monate später landet sie nochmal, die identische Maschine, und die 224 Passagiere haben plötzlich allesamt Doppelgänger, mit denen sie sich herumschlagen müssen.
Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Es ist halt ein Gag. Es ist originell, wie viele Bücher heutzutage sind. So etwas würde nie passieren dürfen in dieser Welt. Andere Versionen von uns, die andere Entscheidungen getroffen haben, mögen sich in Parallel-Universen aufhalten, aber sie dürfen sich nicht hier treffen. Sogar Science-Fiction-Bücher basieren auf Motiven, die halbwegs möglich sind. Der Plot in der Anomalie ist abwegig.
Es werden auch nur unzureichende Versuche unternommen, das zu erklären. Da treffen sich Mathematiker (der Autor ist so einer, außerdem Linguist) und Physiker und reden klug herum, der Autor kann da seine Gelehrsamkeit beweisen, aber sonst trägt es nicht viel bei. Theologen denken darüber nach und kommen auch zu keinem Ergebnis. Ich las zwei Drittel, doch als dann die Doppelgänger sich begegneten, konnte ich nicht weiterlesen, das war mir gleichzeitig zu abstrus und zu banal.
Das Buch ist auch so geschrieben, wie der Zeitgeist weht. Unendlich viele Einzelheiten gibt es, die Schauplätze werden detailliert geschildert, die Technik wird verherrlicht und das Auftreten der Behörden auch. Das Buch liest sich wie ein John Le Carré, der über ein Kapitel immer schreibt etwa: New Jersey, 21. Juni, 18 Uhr 46. Der Autor malt wörtertrunken die Szenen hin (schon eingedenk einer möglichen Verfilmung), aber die geschilderten Figuren bekommen nicht richtig Kontur, sie werden zu Randfiguren einer von Apparaten beherrschten Welt. Geheimdienst, Air Force, der Präsident, Politiker, Fernsehleute, alle produzieren sich, viel Bewegung, aber Literatur ist das nicht. Für mich kam nichts rüber. Kein Gefühl.
Dabei schätze ich die Grundidee. Die Viele-Welten-Theorie von Everett! Seth (ein Kommunikator von drüben) meint, es gäbe unendlich viele Versionen von uns in anderen Dimensionen, und darüber hinaus fänden alle unsere Inkarnationen (aus weiter Ferne betrachtet) gleichzeitig statt. Wir jedoch befinden uns in unserer »Timeline« und wissen von den anderen nichts. In der anderen Welt kommen wir alle wieder zusammen.
Das sind andere, große Entwürfe, gegen die sich Die Anomalie ausnimmt wie ein Baukasten für Kinder. Doch unsere Zeitgenossen stecken so tief drin im Materialismus, denen muss man alles hier in dieser Welt zeigen.


