Heimweh
1974 wollte die Medizinstudentin Rachel Remen wissen, was es über den Tod zu lesen gibt. (Das steht in ihrem Buch Kitchen Table Wisdom.) Sie suchte die Bibliothek der Klinik auf. »Meinen Sie vielleicht die Kardiologie-Zeitschrift?« fragte der Bibliothekar. Sie musterten sich ein paar Sekunden. Dann sie: »Nein. Den Tod.« Sie wurde in die Tiefen der Bibliothek verwiesen. Viel fand sich nicht.
Es gab ein paar alte Exemplare des Journals of Thanatology, ein paar hektografierte Blätter und das Neue Testament. Für die Medizin existiert der Tod nicht. Wenn er eintritt, hat man versagt, denkt sich der Arzt.
Dann wurde Rachel Leiterin der Kinderabteilung am Mount Zion Hospital in San Francisco. Eines Morgens hörte sie aufgeregte Stimmen aus dem Besprechungszimmer. Ein 5-jähriger Junge, unheilbar an Leukämie erkrankt, hatte verkündet, er werde heimgehen. Konnte man das zulassen, war das eine Option? Die Chefin sollte es klären.
Es ist wunderbar, wie Rachel Remen darstellt, was in den Minuten ihres kurzen Austauschs geschah; was ihr durch den Kopf ging.
Er saß auf seinem Kissen, blickte zur Tür und malte mit Farbstiften in einem Buch, als ich den Raum betrat. Ich war schockiert, wie eingefallen und krank er aussah. Er schaute von seiner Tätigkeit auf, und unsere Augen trafen sich. In diesem Augenblick wurde alles anders. Das Zimmer wurde sehr still, und das Licht schien einen gelben Schimmer zu besitzen. Ich spürte ganz stark eine Präsenz und hatte den irrwitzigen Gedanken, dass wir uns außerhalb der Zeit befänden. Plötzlich war ich mir eines überwältigenden Schuldgefühls diesem kleinen Jungen gegenüber bewusst. Seit Monaten fügte ich ihm Dinge zu, die ihm Schmerz bereiteten, und dennoch war es mir nicht gelungen, ihn zu heilen. Ich war ihm aus dem Weg gegangen und schämte mich dafür. Als sich unsere Augen trafen, schien es, dass er das irgendwie begriffen hatte und mir vergab. Mit einem Schlag war ich in der Lage, mir selbst zu vergeben, nicht nur im Fall dieses kleinen Jungen, sondern für alle anderen Kinder, die ich behandelt und verletzt hatte und denen ich im Verlauf meiner Karriere nicht hatte helfen können. Es war eine Art Heilung.
Seine Gebrechlichkeit und meine Müdigkeit fielen fort, und wir schienen uns gegenseitig zu erkennen. In diesem Moment waren wir Gleichwertige, zwei Seelen, die ihre schwierigen Rollen mit absoluter Perfektion gespielt hatten: er als kleiner Junge und ich als Ärztin. Das Drama war vollständig. Es hatte irgendeinen Zweck gehabt, und es gab nichts zu vergeben oder vergeben zu bekommen. Es existierte nur tiefe Akzeptanz und gegenseitiger Respekt. All dies geschah während der Dauer eines Herzschlags.
Dann sprach er zu mir. Mit freudevoller Stimme sagte er: »Doktor Remen, ich gehe heim.« Nun war ich sprachlos. Ich murmelte etwas wie »das freut mich sehr«, zog mich zurück und schloss die Tür hinter mir.
Ein paar Stunden später war der Junge tot. Er war friedlich und schnell gestorben. Dieses Kind hatte gewusst, dass es sterben würde und es auf übertragene Weise ausgedrückt; oft reden Sterbende vom Reisen, und unsere TestpilotInnen hatten ja auch das Gefühl, heimgereist zu sein. Das Klinikteam indessen nahm es wörtlich und kam nicht damit zurecht.
Ein Jahr später begann Rachel von vielen kleinen Patienten zu träumen, an deren Betten sie gesessen war, als es zu Ende ging. Sie erlebte im Traum das, was sie im Leben nicht zulassen hatte können: Ohnmacht, Trauer, Wut, Verzweiflung. Dies alles arbeitete sie auf, und sie reifte dadurch.
∃ ∅
Später sah Rachel ihn noch einmal: Auf dem Bett sitzend, lächelte er ihr zu, der kleine Junge, Das war, als der todkranke Richard ihr sagte, er sehe Licht. Er sagte sogar: »Ich bin Licht.« Ein Monster hatte ihn verfolgt, und als es keinen anderen Ausweg gab, riet sie ihm, sich verschlingen zu lassen. Er kämpfte mit sich, zitterte und wurde dann friedlich. Dann sagte er das mit dem Licht. Und später sagte er noch, er sehe eine Barriere oder Mauer, und er sei auf beiden Seiten. Es mache ihn froh. Ob sie, Rachel, wisse, was das bedeute? »Nein«, sagte sie. Als er starb, kommentierte sie nur, hoffentlich sei er etwas anders gestorben als befürchtet. »Ich möchte das denken, aber ich weiß es nicht.« Etwas dürftig.
Ach, es macht einen wahnsinnig. Die Mauer ist die zwischen Leben und Tod, und da er den Tod vor Augen hatte, war er auch gleichzeitig schon drüben. Das hätte man sagen können, wenn man an die Andere Seite glauben könnte. Ärztinnen und Ärzte sind dazu anscheinend nicht in der Lage und verstehen manches dann nicht. Sogar Rachel nicht. Schade.
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