Leos Abgang

Einige Jahre vor seinem Tod ging Leo fort. Er wurde dement. Erst kam es nur zu ein paar Aussetzern, dann kapierte er gar nichts mehr, und seine Frau Addie suchte nach einem Pflegeheim. Die beiden sind die Hauptpersonen des Romans Counting Backwards von Binnie Kirshenbaum. Die Autorin hat das erlebt, ihr Mann wurde mit 55 dement und starb mit 63. Malcolm Young war zuletzt auch in einem Heim und wurde 64 Jahre alt.

Leo im Buch hatte Lewy-Körper-Demenz, angeblich nach Alzheimer die zweithäufigste neurodegenerative Krankheit im Alter. Erschreckend, dass sie schon so früh auftreten kann. Bei Robin Williams wurde sie auch diagnostiziert. Die Krankheit schreitet unerbittlich voran, es geht immer weiter bergab, und nach der Diagnose lebt man im Durchschnitt noch 8 Jahre.

Das Buch (auf Deutsch: Rückwärts zählen) ist ergreifend, denn Addison (oder Addie), die als Ich-Erzählerin fungiert, lässt uns an allen ihren Gefühlen teilhaben. Wie schrecklich, wenn der langjährige Ehepartner plötzlich nicht mehr derselbe ist! Addie findet ein Heim, in dem ein Platz 12.000 Dollar pro Monat kostet, dann eins, das »nur« die Hälfte verlangt, und schließlich mietet sie eine kleine Wohnung, in der die Jamaikanerin Larissa sich rund um die Uhr rührend um Leo kümmert, den einst vorbildlichen Ehemann, der nun fast zum Kind geworden ist. Addie erkennt er kaum mehr. Er umarmt sie flüchtig und sagt, auf Larissa deutend: »Ich bin jetzt mit ihr zusammen.« So etwas tut weh.

Es wäre schön, wenn das Buch, das erst kürzlich erschien, bald übersetzt werden würde. (Wie gern würde ich das übernehmen!) Vier Jahre hat Binnie daran gearbeitet und dabei oft an ihren Mann gedacht. 2020 ist er gestorben. Ein wunderbares Buch, auch wenn das Thema so traurig ist. Statt einem längeren Exkurs will ich einfach die erste Seite übersetzen. Ein knapper, so rasch hingeworfener Halbsatz trifft einen zuweilen wie ein Hammer.

Heute Abend oder morgen

Du sitzt auf der Bettkante und beobachtest deinen Ehemann, der aussieht, als würde er schlafen.
Er ist mit einem großen Sauerstofftank verbunden, und er könnte ja schlafen, doch in der Hauptsache ist er am Sterben. Ein Sauerstofftank ist kein Beatmungsgerät. Wenn es um solche Dinge wie etwa Beatmungsgeräte ging, wenn sie in den Fernsehnachrichten erwähnt wurden mit den unvermeidlichen Gerichtsverfahren und Auseinandersetzungen in den Familien, sagte Leo unweigerlich: »Was auch immer: keine künstlichen lebensverlängernden Maßnahmen für mich.«   
Das Dokument liegt dir vor: »Keine Wiederbelebung« und »Keine lebensverlängernden Maßnahmen«. 
Du hingegen sagtest darauf: »Ich möchte eingefroren werden. Oder vielleicht in eine Art langdauerndes Koma versetzt werden.«
Die Schmerzen beim Atmen. 
Der Sauerstoff hilft gegen die Schmerzen.
Ihm hilft der Sauerstoff gegen die Schmerzen.
Aber Linderung von Schmerzen bedeutet nicht, dass keine Schmerzen da sind. 
Du hast Schmerzen.  

Die Hospizschwester sagt, dass wenn es den Anschein hat, als würde er leiden, wenn er also jammert und stöhnt oder, da nicht alles Leiden externalisiert werde, ich den Eindruck hätte, dass er sich nicht wohl fühle würde, ich ihm Morphium verabreichen könne.
Nicht alles Leiden wird externalisiert. 

Du lugst hinüber zu der Phiole mit den Morphiumtabletten.  

 

Im Pflegeheim ist Demenz häufig. Es gibt Frauen nd Männer, die wandern herum, denn sie wollen nach Hause. Sie lächeln, erkunden andere Zimmer als das ihre und murmeln Unverständliches vor sich hin. Männer werden manchmal wütend, wenn das nicht herauskommt, was sie sagen wollen. Gegen Ende versteht man überhaupt nichts mehr, sagt nur Ja, ja und kommt sich wie ein Heuchler oder ein schlechter Schauspieler vor. Diese Menschen sind nicht mehr richtig da, sie wirken wie Untote oder schlecht instruierte Komparsen. Und so verschwand Leo, wie ich am Anfang schrieb, schon vor seinem Tod.

Plötzlich steht oder sitzt da nur eine Person vor einem, der man fremd ist: eine Hülle. Manchmal wird man erkannt und manchmal nicht. Sie wissen nicht mehr richtig, was sie mit dem Essen anfangen sollen. Sie reißen Seiten aus Büchern und tun seltsame Dinge, weshalb man sie immer unter Beobachtung haben muss. Sie können ja nichts dafür. Da Demenz nicht selten ist, gibt es nun viele Bücher, von Betroffenen verfasst. Diese Krankheit macht den Angehörigen sehr zu schaffen.

Dazu lesen:

Binnie KirshenbaumBruce schweigt Fragen an die Toten (3)

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