Die Kraniche fliegen südwärts
Die Schwedin Lisa Ridzén hat ein Buch geschrieben, das überall gelobt und derzeit in mehr als 30 Sprachen übersetzt wird. Es heißt Tranorna flyget söderut und soll am 1. Januar auf Deutsch ausgeliefert werden. Der Titel könnte so etwa lauten wie bei mir. Ich habe das Buch auf Italienisch gelesen und kann darum etwas dazu sagen. Nichts Wichtiges jedoch wird verraten.
Der alte Bo, 89-jährig, erzählt seine Geschichte. (Die Autorin hatte die Aufzeichnungen ihres Großvaters vorliegen.) Seine Frau kam dement in ein Pflegeheim, der Sozialdienst kommt regelmäßig vorbei und sein Sohn Hans auch. Bos treuester Begleiter ist der Hund Sixten, den wegzugeben Hans droht. Der Hund bräuchte längere Spaziergänge. Bo hat noch einen guten, ebenfalls alten Freund, Ture. Der Erzähler erinnert sich an viele Szenen aus seiner Vergangenheit. Dass er manchmal mit seiner Frau Fredrika (in Gedanken) spricht, gefällt mir. Auch zwei andere Stellen kommen unerwartet.
Manchmal tat Bo so, als wäre er Sixten, sein Hund. Und er spürte selber das Spiel seiner Muskeln und das glatte Fell. – Auf der Jagd hatte er das Gefühl, die Angst der potenziellen Beute vibriere in ihm.
Jedes Mal, wenn ich dann den Finger an den Abzug hielt, wehrte sich etwas in mir, als würde ich auf mich selber zielen.
Die Kraniche bedeuten natürlich etwas, dazu braucht man nicht viel Phantasie. Ein ungenannter chinesischer Dichter schrieb in der späteren Han-Zeit (von 200 bis 300):
Nicht jeder steigt wie jener Heilige der Berge
Auf weißem Kranich auf in die Unsterblichkeit.
Deutlich wird Bos Entmündigung, die viele alte Menschen erfahren. Er klagt:
Es werden alle in die Entscheidungen über mein Leben einbezogen, nur ich nicht.
… aber meine Worte machen keinen Eindruck auf andere mehr. Sie fallen wie tote Vögel vom Himmel und nieder an einem Ort, den niemand besucht.
Wir haben oft darüber gesprochen, dass wir nicht wollen, dass sie uns bei schwerer Krankheit am Leben lassen, doch strenggenommen haben wir ja jetzt schon kein Leben mehr.
Wie kann etwas besser für mich sein, wenn ich es nicht will?
Alte Menschen werden oft wie Kinder behandelt. Das ist besser für dich! müssen sie hören. Man nimmt sie nicht ernst, geht über sie hinweg, schiebt sie herum. Das ist fast schlimmer als die Ohnmacht, weil der Körper nicht mehr alles mitmacht.
Übers Älterwerden schreiben Schauspieler oder andere Prominente, wenn sie diese Phase erreicht haben. Über Menschen mit Demenz schreiben deren (prominente) Kinder oder Ehepartner. Die Betroffenen können das ja nicht mehr, und wir wissen nicht, wie sie die Welt sehen.
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Bo will seine Frau nicht mehr besuchen. Es tut weh, wenn der Mensch, den man seit 40 Jahren kennt, einen nicht mehr erkennt. Ein Fremder ist man plötzlich. Kürzlich gab es so einen Fall im Pflegeheim. Ein Mann läuft immer durch die Gänge und sagt, seine Frau werde kommen. Dann, eines Sonntags, kam sie tatsächlich. Sie standen sich gegenüber. Später redete ich mit ihm, und er sagte, er habe auf seine Frau gewartet, doch sie sei nicht gekommen.
Das Bild ist von Otto Schäfer, dessen Seite »Birds and Nature« heißt.
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