Lebhafte Erzählungen

Viele Menschen können fesselnd aus ihrem Leben erzählen, und den argentinischen Rundfunkjournalisten Francisco Olaso hat das immer fasziniert. Die prägnantesten Interviews, die er in den vergangenen 20 Jahren führte, hat er nun in dem Sammelband Relatos vivos (Lebhafte Erzählungen) vereint, und das Buch wurde vor 4 Tagen in Berlin in meinem bescheidenen Beisein vorgestellt.

Das fand bei einer Lesung im Salón Berlines statt, und sogar mein langjähriger Freund Fritz Schütte wirkte mit. In diesem Teil ging es um Kurt Goldstein (1914-2007), der Auschwitz überlebte und den Olaso 2004 interviewte. Einmal wurde Goldstein in Panama zu einem Interview gebeten, und der dortige Radiochef fragte ihn aus. Ob er damals, 1936, als Politkommissar mit Kindern Schach gespielt habe? Ja, gab Goldstein an. Der Radiomannf: Ob er einmal durch ein Schäfermatt verloren habe? Ja, auch daran erinnerte sich Goldstein. Nun, der Junge sei er gewesen, sagte belustigt der Radiochef in Panama.

Links Francisco Olaso, in der Mitte Fritz Schütte, rechts Auri Molina

Francisco Olaso ließ zwei Nigerianer erzählen, Kingsley und Ibrahim Alberto. Kingsley war arm und wollte weg aus Nigeria. Da brauchst du 700 oder 800 Euro, und dann bringen sie dich außer Landes. Bis Mali ist das problemlos; doch man wartet erst einmal 3 Monate, und dann geht es weiter – zu Fuß durch die Wüste, immer in die Nacht. Wenig bis gar nichts gab es zu essen, viele starben, und man ließ sie einfach liegen; der Sand würde sie zudecken oder die Sonne sie ausbleichen, es bleiben die Knochen. Kingsley heiratete eine Frau, mit der er zwei Kinder hatte, doch aus Marokko kam er nicht weg. Neun Jahre war er zur Zeit des Interviews dort, fühlte sich zwar fast schon als »European Man«, aber nur fast.

30 Zuhörerinnen und Zuhörer waren im Salón Berlines zugegen, und in der Pause wurde es auch lebhaft.

Francisco Olaso sprach etwa mit einer Frau, die nah an der Mauer lebte und deren Sohn bei einem Fluchtversuch angeschossen wurde; er verblutete im Todesstreifen. Der Journalist (links im Bild), der seit 25 Jahren aus Berlin für südamerikanische Medien berichtet, unterhielt sich auch mit zwei Soldaten, die den Untergang der General Belgrano am 2. Mai 1982 im Falkland-Krieg miterlebten, der 380 Menschen das Leben kostete. Er sprach auch mit Herta Müller, der Literatur-Nobelpreisträgerin, die einst in einer Schlange einen Mann erkannte, der sie in Diensten des rumänischen Diktators Ceauşescu befragt hatte. Schön der Titel des Beitrags: »Der Wind ist kälter als der Schnee.«

Der Autor selbst nannte sein Werk ein »libro corale« oder ein »Buch der vielen Stimmen«, freute sich über die Erzählkunst, die seine Interviewpartner an den Tag legten und betonte, es handle sich um »dokumentierende Literatur«, die auf wahren Begebenheiten beruhe. Ja, wir hören die subjektive Wahrheit eines Menschen, und da mahnt uns Günter Eich in einem Gedicht (Fortsetzung des Gesprächs/4):

mit List 
die Fragen aufspüren
hinter dem breiten Rücken der Antwort.  

In dem kleinen Band Lapidarium III des großen polnischen Journalisten Ryszard Kapusćiński (1932-2007), den mir Fritz schenkte, fand ich gleich am Anfang eine Bemerkung zu »Interviews« mit berühmten Autoren – und am Anfang stehen natürlich die Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens von Johann Peter Eckermann (1792-1854, links im Bild, 1824 gemalt)), erschienen 1836. Eckermann ist übrigens im selben Ort wie Fritz Schütte geboren, in Winsen an der Luhe.

Kapusćiński schrieb 1996, Leser und Verleger wollten nicht auf ein perfekt ausgearbeitetes Werk warten; sie wollten Reflexionen, Meinungen und geheime Gedanken eines Intellektuellen jetzt und sofort, und die Sprecher könnten diese auf aphoristische Art und Weise ausdrücken, sie in einen neuen Kontext stellen, ihnen eine neue Bedeutung verleihen. Autoren von Büchern stellen Fragen, werfen Probleme auf, graben und gehen in die Tiefe. Und:

Derselbe Held ist, auch wenn er als Hauptfigur eines Buches fungiert, gleichzeitig irgendwie sekundär und passiv; er ist einer, der oft erst auf den Druck eines von außen kommenden Impulses reagiert – auf die Frage. 

Und ist es nicht so (sage ich nun), dass das Leben uns andauernd Fragen stellt? Es sind Entscheidungen zu fällen, und es gilt, unsere Zeit so zu verbringen, dass wir uns so gut wie möglich ausdrücken. Unsere Antworten definieren uns und unsere Rolle im Ganzen, doch bleiben sie stets unvollkommen und vorläufig. Und die Fragen hören niemals auf.

 

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