Eine bessere Welt

Von dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda (1926-2016) habe ich schon 6 Filme besprochen, an ihm bleibe ich imer wieder hängen, und kürzlich sah ich Ohne Betäubung (1973) und Fräulein Nichts (1996). Auf Youtube gibt es ein riesiges Interiew mit Wajda, zerschnitten in 222 Teile, und jeder Teil hat 3 bis 4 Minuten. Der Regisseur, der mit einem Oscar für sein Lebenswerk geehrt wurde, spricht über sein Leben und seine Filme.

Nicht alle 222 Teile sind zu sehen auf Youtube. Sagen wir, jeder Ausschnitt hat fast 4 Minuten, dann kommen wir auf 800 Minuten, sind 12 oder 13 Stunden. Andrzej Wajda hat auch eine Filmschule gegründet, um junge Regisseure hervorzubringen. Ein Interviewschnipsel fand ich besonders interessant, ich will daraus zitieren. Ich glaube, es hat mir gefallen, weil er den Film als schönere Welt beschreibt. (Wajda spricht langsam und deutlich, sein Polnisch kann ich in großen Zügen verstehen, das macht Mut.)

Zuerst, davor, meinte der Regisseur, er habe nie materielle Interessen gehabt. Für Asche und Diamant erhielt er als Lohn 37.000 Zloty, und ein Auto kostete 120.000. Der Staat finanzierte nichts, und man konnte froh sein, wenn er das Drehen des Films nicht verbot. Wajda jedenfalls betonte, er habe nur für den Film gelebt, ausschließlich, und während er einen Film drehte (der gedanklich im Grunde schon »im Kasten« war), dachte er schon an den nächsten.

Die Interviews wurden vermutlich um das Jahr 2000 gemacht, und von Nummer 73 von 222 mit dem Titel »Filmemachen ist Eskapismus aus der Realität« liegt ein Transkript vor. Ich muss nur übersetzen, was Wajda in diesen 4 Minuten sagte.

Das ist wichtig. weil ich in all den Jahren, in denen ich Filme machte, in keiner Weise davon profitierte, und jedes Mal, wenn ich mich zur Kamera begab, war ich mir bewusst, dass ich wieder einmal davongekommen war. Es war, als wäre ich aus dem Gefängnis entronnen und als würde ich nun wieder etwas tun, für das man mich schon vor langer Zeit hätte einbuchten müssen. Ich glaube, es war aufregend, vor allem für einen jungen Menschen. Als ich »Asche und Diamant« machte, war ich 30 Jahre alt, und es war normal, aufgeregt und überarbeitet zu sein. Für uns war es einfach ein Abenteuer, und jeder folgende Film war es auch.      

Das Leben war so langweilig, so hoffnungslos, so uninteressant: Es passierte wirklich nichts in diesem Land, und nichts spielte irgendeine Rolle. Das Filmemachen transportierte uns darum in eine andere Welt. Jene Welt – die, die wir auf der Leinwand erschufen – war für uns die wirkliche Welt, während die Dinge, mit denen wir uns täglich abzugeben hatten, ein Trugbild war, das uns nicht berührte, weil wir an ihm nicht teilhatten. Ich will deshalb nicht sagen, dass das allein meine Entscheidung war; ich denke, dass viele meiner jüngeren Kollegen erkannten, dass Filmemachen ein Lebensstil war und nicht nur eine Berufung oder ein Beruf oder eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Nein. 

Ich erinnere mich, wie wir jeden Film anfingen. Da spielte es keine Rolle, ob der Film erfolgreich war oder nicht, es war eine Abspaltung von der Realität und ein Eintauchen in eine Welt, die immer interessanter und besser als diese war. In dieser Beziehung wurde ich vielleicht wirklich aktiv, ich flüchtete aus dieser Realität und wollte einfach keine Leute mehr treffen, ich wollte sie nicht näher betrachten, denn vielleicht hätte ich in dieser Welt etwas gesehen, das interessanter gewesen wäre als meine Filme.  

Das klingt ziemlich schlüssig, nur bestand meine Entscheidung in etwas Anderem, ich distanzierte mich von der Realität mit dem Resultat, dass ich über die Heldinnen und Helden meiner Filme mehr wusste als über meine Freunde und diejenigen, die um mich herum waren. Nun gut, sie arbeiteten mit mir und wir waren Freunde, wir taten Dinge zusammen. Auch sie wollten diese Filme machen, weil auch sie sich von ihrem Alltagsleben und ihren Problemen distanzieren wollten. 

Ich indessen distanzierte mich vollständig, ich schob mein Familienleben und mein persönliches Leben ganz in den Hintergrund. Damit war ich der Figur des Maciej Chełmicki und den Helden des Films »Kanał« und derer späterer Filme näher als den Schauspielern, die diese Rollen spielten. Wie ich schon sagte, weiß ich nicht, ob das gesund ist, ob das gut ist, aber ich muss anerkennen, dass es so geschehen ist.. Und so habe mein ganzes Leben gelebt.

Bravo, Andrzej!

Das obere Bild ist von polonicult.com, das untere von rubenluengas.com. Sie wurden mir unter der Rubrik »kostenlos teilen und verwenden« angezeigt.

 

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