Die Sirene
In dem Film Dracula – Die Auferstehung war auf einem kunterbunten Jahrmarkt in Paris eine halbe Minute lang eine Meerjungfrau zu sehen: eine Frau mit Fischschwanz. Sirenen waren ja eher Frauen mit Vogelkörper, doch Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957) meinte eine Meerjungfrau, als er eine Erzählung Die Sirene nannte. Eine sehr schöne Geschichte, wir stellen sie vor.
Der adelige Autor schrieb 1954 den Roman Der Leopard und wurde dadurch berühmt; doch das war 1958, als er schon nicht mehr lebte. Die Sirene stammt aus den letzten beiden Jahren seines Lebens, 1956 und 1957.
Den Sirenen hat manipogo einen längeren Artikel gewidmet, Link unten. Natürlich sind sie mit Vampiren sowie mit den Harpiyen und Lamien (Dämoninnen in Griechenland/Rom) verwandt. Auch sie wollen jemanden mitnehmen in ihr unterseeisches Reich. Ihnen wird unersättliche Begierde zugeschrieben.
Der Erzähler heißt Paola Corbèra, ist Palermitaner (ein Mann aus Palermo) und arbeitet in Turin in der Redaktion der Zeitung La Stampa. In seinem Lieblingscafé lernt er den Senator und bedeutenden Antikenkenner Rosario La Ciura kennen, auch er aus Palermo. Der illustre Mann freundet sich mit Corbèra an, und kurz vor einer Abreise mit dem Schiff vertraut La Ciura seinem Freunde eine Geschichte an, die erklärt, warum er sich immer von Frauen fernhielt: Er liebte eine Sirene, die er nie vergessen konnte …
La Ciura war jung und studierte, als ihm ein Freund eiu Haus am Meer in Augusta (bei Sircusa) zur Verfügung stellte, für 6 Wochen. Am 5. August 1887 geschah es. Eine etwa 16-Jährige blickte ihn, der im Boot saß, vom Wasser aus an und lächelte, und sie verströmte eine »nahezu tierhafte Freude am Dasein, eine nahezu göttliche Fröhlichkeit«. Sie erklimmt das Boot, und der Student erblickt ihren Fischleib. Sie sagt:
Du gefällst mir: nimm mich. Ich bin Ligäa, die Tochter der Kalliope.
Sie umarmen sich, und es wird zwischen ihnen vermutlich genauso leidenschaftlich und animalisch zugegangen sein wie zwischen Graf Dracul und seiner Prinzessin Elisabeta. Drei unvergessliche Wochen dauert ihr Beisammensein. Die Sirene sagt so rätselhafte Worte wie:
Ich bin alles, weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das, ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet … Du bist schön und jung, du solltest mir jetzt ins Meer folgen. … Ich habe dich geliebt. Denke daran, wenn du einmal müde bist, wenn du wirklich nicht mehr kannst, dann brauchst du dich nur über das Meer zu beugen und mich zu rufen; ich werde immer dasein, denn ich bin überall; dein Durst nach Schlaf wird gestillt werden.
Andere Männer sind ihr bereits gefolgt. Der Senator verabschiedet sich, und der Journalist erfährt zwei Tage später, dass La Ciura vor Neapel ins Meer gefallen ist. Von ihm fand sich keine Spur mehr.
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