Lob des Schattens

Am Ende des Monats wollen wir, damit es mit dem Licht nicht überhandnimmt, uns noch einmal an den Satz des Ungarn Sándor Màrai erinnern: »Doch im Licht kann man nur baden, wie im Ozean – man kann nicht auf Dauer darin leben, es betäubt.« Der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun’ichiro (1886-1965) hat ein Buch über die Ästhetik in Japan geschrieben, das Lob des Schattens heißt.

Als ich wieder einmal aus dem Elsass kam und durch Heitersheim fuhr, fiel es mir wieder auf: Die jungen Leute treffen sich gern im Schatten. Da gibt es eine Fußgängerbrücke über die Bundesstraße, und darunter, an einem Hang, machten zwei Mädels ihre Späße; und weiter rechts, wo es am Bach eine Unterführung unter der Straße gibt, sitzen auch immer viele. Bei mir in der Nähe hocken sie gern in der überdachten Bushaltestelle. Sie wollen sich wo treffen und haben keine Lust, dies auf der Piazza zu tun. Sie wollen unter sich sein und ein wenig Intimität haben.  

In St. Gallen schaute ich einmal aus meinem Haus – und da saßen auf den Treppenstufen vor der Haustür zehn oder zwölf junge St. Gallerinnen und St. Galler. Ich war perplex. Aber bei uns gab es ein Vordach, man saß auf dieser Treppe wie in einem Wohnzimmer. Die schummrige Disco, der Nachtklub, die düstere Kneipe, Reden bei Kerzenlicht in Kellerräumen … das alles ist so wichtig.  

Gästezimmer in Zürich

 Denn im Zwielicht ist vieles möglich. Man kann sich freier fühlen und spricht aus, was man im Sonnenlicht nicht aussprechen würde, und man fasst sogar Mut und berührt jemanden … Heute wird ja alles ausgeleuchtet und durch Videokameras überwacht, man hat Angst vor Verbrechen und vergisst, wie wohltuend Anonymität und der Schutz der Dunkelheit sein kann. Da denke ich an die Live-Aufnahme von Mercy Street von Peter Gabriel, diese Aufnahme aus Mailand 2003, da liegt die Bühne in blauem Licht, einem überirdischen und zugleich unterirdischen Licht; blau und die Unterwelt, darüber hatte ich auch schon einmal geschrieben.   

Séancen liefen immer bei dämmriger Beleuchtung ab, weil das Licht nicht zulässt, dass sich die Energie konzentrieren kann, und Licht zerstört auch das Ektoplasma, das für Materialisationen benötigt wurde. In der Frühzeit der Telegrafie schickte man die Botschaften immer in der Nacht, weil das Tageslicht die Wellen störte. Man könnte ganz banal sagen: Licht steht für Bewusstsein, die Dunkelheit und der Dämmer für das Unbewusste, das auch sein Recht hat.  

Da, wo viel Licht herrscht – im Süden -, ziehen sich die Menschen am Mittag in die Innenräume zurück. Und sie tragen oft auch dunkle Sachen. Zu viel Bewusstsein kann einen auch verrückt machen; man muss wissen, worüber man nicht zu sprechen braucht und was beschützt werden sollte.

 

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